Grundschulpädagogische Fragen

Das Prinzip der Fehlerprävention

Viele Lehrer sehen in der Fehlerprävention ihre wichtigste Aufgabe. Sie halten ihre Schüler von Situationen und Situationen von ihren Schülern fern, in denen die Arbeit der Lernenden erwartungsgemäß nur zu unvollkommenen, lückenhaften und fehlerhaften Produkten führt. Zuerst müssen die Voraussetzungen für perfekte oder wenigstens an vorgegebenen Leistungskriterien orientierte Herstellung von Arbeitsergebnissen geschaffen werden. Mithin folgt der zielorientierte (=fehlervermeidende) Unterricht den methodischen Schemata

Bekanntgabe der Lehrabsicht / Kenntnisnahme der Lehrabsicht

Vorgabe des Lerninhalts / Rezeption des Lerninhalts

Übung

Anwendung in anderen und/oder komplexeren Zusammenhängen

oder

Exposition eines einschlägigen Problems

Erarbeitung der Problemlösung (Vorwissen, Vermutungen der Schüler / Korrektur und Fixierung durch den Lehrer)

Übung

Anwendung in anderen und/oder komplexeren Zusammenhängen

Diese bombensicheren (pupil-proof) produktorientierten Unterrichtsschemata geben weder dem Fehlerteufel noch der eigenständigen Erkenntnis- und Produktionstätigkeit der Schüler eine Chance. Wozu auch den Schüler in einer offeneren Lernsituation erst Fehler machen lassen, die er dadurch mitübt und die anschließend mühsam wieder ausgemerzt werden müssen! Wozu auch den Umweg über die Vorläufigkeit einer Schülerarbeit nehmen, in der der Schüler seine eigenen (noch gar nicht richtig entwickelten geistigen) Kräfte erprobt und die dann ja noch bearbeitet werden muss! Frustriert das den Schüler nicht? Ist es nicht ehrlicher, dem Schüler von vornherein die Kriterien mitzuteilen, unter denen seine Leistung am Schluss beurteilt wird? [3]



Fehler sind die Freiheiten, die man sich um des Handelns willen herausnimmt

Vom zweiten Schultag an leisten meine Erstklässler und ich sich das Gaudi, selbst da schriftlich miteinander zu verkehren, wo es mündlich einfacher möglich wäre. Neben der Klassentür hängt unser Briefkasten, dessen Inhalt täglich von zwei "Postboten" ausgeteilt wird. Es sind Zettel und Briefchen (kleine und normale Briefumschläge liegen im Regal bereit) mit dem Namen des Adressaten (wie die Namen geschrieben werden, kann man den Namenkarten entnehmen, die seit dem ersten Schultag auf einer Leine reiten). Oft fehlt der Absender; manchmal können die "Postboten" nicht erkennen, wer der Absender und wer der Empfänger sein soll. Die einfachsten Mitteilungen sehen so aus:

Nach und nach erkennen die Kinder aber das Prinzip der Buchstabenschrift, und dann kommt es zu noch inhaltsschwereren Mitteilungen:

[Hier werden zur Dokumentation noch Bilder eingefügt.]

Wenn ich solche Schriftstücke im Lehrerzimmer zeige, entsetzen und mokieren sich Kolleginnen über die Rechtschreibkompetenz meiner Schüler. Das hindert uns (die Kinder und mich) nicht daran, mit großer Lust unser schriftliches Kommunizieren fortzusetzen. In den Ferien schreibe ich jedem Kind Kartengrüße und erhalte von vielen ebensolche, manche mit postalisch abenteuerlichen Anschriftsangaben ("VON NADIN [4] AN HERR Greiß", in Marsberg (Westfalen) abgestempelt und in Volkmarsen richtig angekommen: ein Triumph der kindlichen Eigenständigkeit).



Schriftliche Meinungsumfrage im Anschluss an Pink Floyd, Shine On You Crazy Diamond.



Es gibt perfekte Briefe, denen die ordnende und fehlervermeidende Fürsorge der Mutter anzumerken sind. Mehr als von diesen sterilen Perfektionsübungen haben Leser und Schreiber von den eigenständigen Briefen: Sie sind echt in Herz, Kopf und Hand, in Anlass, Inhalt und Form. Diese echte Ursprünglichkeit fehlt den diktierten oder vorgeschriebenen, kontrollierten Schriftstücken; ihre Funktion und das dahinter zu vermutende handlungsleitende Interesse ist weniger die Kommunikation, sondern eher die didaktisch, also auf einer Meta-Ebene veranlasste formale Übung.

Was heißt "Schreiben"? Schreiben heißt, Wörter, Aussagen, Fragen, Berichte, Pläne und Geschichten selbständig (also nicht etwa abschreibend) so zu Papier zu bringen, dass ein Leser den gemeinten Sinn erfassen kann. Dazu ist es erforderlich oder aber zumindest nützlich,

a) dass der Schreiber die Lautgestalt der zu schreibenden Wörter hinreichend genau erfasst (analysiert) und in eine entsprechende Buchstabenreihe übersetzt (bei öfter geschriebenen Wörtern kann sich der Schreiber die Lautanalyse sparen) und

b) dass die Buchstabenformen, die Buchstabenformate (im Liniensystem, aber auch ohne Liniensystem) und die Anordnung des Textes auf dem Papier stimmen.

Beim Erlernen der Schriftsprache sind die Rechtschreibnormen dem lautgerechten Schreiben nachgeordnet. Zunächst muss der Lernende das Prinzip der Buchstabenschrift erfasst und eingeübt haben; dann erst kann von ihm erwartet werden, dass er sich den aufgesetzten (vielfach unlogischen) Normen der Orthographie unterwirft. Ein Erstklasskind, das viele eigene Wörter und Texte in lautgerechter Schreibung notieren kann, hat eine bessere Lernausgangslage als ein anderes, das zwar eine Anzahl eingeübter Wörter orthographisch korrekt schreiben kann, aber beim eigenständigen Schreiben gehemmt ist. Jetzt, am Ende des ersten Schuljahres, und dann verstärkt im zweiten Schuljahr entsteht bei den Kindern, die zum Schreiben eigener Texte motiviert sind, wie von selbst der Wille, die Wörter nicht nur lesbar, sondern ganz korrekt zu schreiben.

Am Ende des ersten Schuljahres sollen die Kinder wissen, dass Namenwörter und alle Wörter am Anfang von Sätzen und von Überschriften mit großem und alle anderen Wörter mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben werden, und sie sollen dieses Wissen beim Schreiben sicher anwenden können. Dazu müssen die Kinder auch wissen, was ein Satz ist und dass jeder Satz mit einem Satzschlusszeichen (./!/?) endet. Angebahnt (!) und in der Schreibpraxis geübt sein sollen Erkenntnisse über die orthographischen Phänomene Schärfung (Affe, nicht Afe; backen, nicht baken) und Dehnung (Boot, nicht Bot; Sahne, nicht Sane; Ziege, nicht Zige). Am Ende des ersten Schuljahres sollen die Kinder ungefähr 100 Wortformen in korrekter Rechtschreibung schreiben können. Welche Wortformen dies sind, hängt zu einem großen Teil vom individuellen Grund-Wortschatz ab und wird daher von mir zwar festgestellt, aber nur teilweise festgelegt.

Haben wir Deutschen / wir deutschen Lehrer(innen) ein pathologisches Verhältnis zur deutschen Orthographie? Unterbinden wir die Versuche eines einjährigen Kleinkinds, den aufrechten Gang zu erlernen, nur weil diese Versuche ausgesprochen unvollkommene, oft sogar katastrophale Ergebnisse zeitigen? Unterweisen wir es zunächst in den Elementen der Bewegungsabläufe, des Gleichgewichthaltens und der Koordination aller den aufrechten Gang konstituierenden sensorisch-motorischen Teilleistungen, so dass es schließlich befähigt ist, den Prozess des Laufenlernens binnen Jahresfrist mit der Qualifikation für eine Leichtathletik-Olympiade zu beschließen?

Lehrer wirken nicht nur dadurch, was sie wissen und was und wie sie vermitteln, sondern auch dadurch, was und wie sie sind. Wer ein Welt- und Menschenbild hat, in dem alles und jeder seine feste Bedeutung, seine festen Funktionen, seinen festen Rang und seine festen Zugänge hat, wird seinen Unterricht nicht öffnen können, selbst wenn er es wollte. Seine persönlichen Ängste vor dem Unberechenbaren, nicht bis ins Detail hinreichend Planbaren behindern ihn dabei, das berufliche Handeln von dem Rechtfertigungsdruck zu emanzipieren, dem alles Unkonventionelle ausgesetzt ist. Aus Schutzbedürfnis bergen sich ängstliche Lehrer gern im konformistischen Schulterklopfen der Pausensitzungen im Lehrerzimmer und greifen fast dankbar und begeistert alle Anflüge von theoretisch klingenden Verlautbarungen auf, die ihre schon immer gehegte Meinung und immer wieder gewonnene Erfahrung untermauern. Auf diese Weise umgeben sich wenig offene Lehrer mit einem überhaupt nicht offenen System sozialer und theoretischer Absicherung. An solchen Schulen wird man offenen Unterricht günstigstenfalls im verborgenen blühen sehen.

Rechtschreibung im ersten Schuljahr? Ja! Aber manchen genügt der Hinweis auf die Richtnorm nicht, die den hessischen Lehrern durch die hessischen Lehrplanbestimmungen gesetzt ist. Daher ist auch fachdidaktisch und psychologisch zu argumentieren:

Es gibt kein Indiz dafür, dass orthographische oder graphische Fehler, die Kinder in der Phase des Erwerbs der Schriftsprache machen, sich einschleifen, wie die frühere Lernpsychologie annahm. Haltungs- und Koordinationsfehler, die Kinder in der Phase des Laufenlernens gemacht haben, sind wieder verlernt worden, weil sie sich in den Serien der zielgerichteten Versuche nicht bewährt haben. Schaffen wir für die Lernaufgaben des graphisch und orthographisch korrekten Schreibens einen ähnlichen realen Bewährungsraum! Arrangieren wir mannigfaltige Betätigungsfelder für die Schreiblust der Sechs- und Siebenjährigen, fördern und erhalten wir diese Schreiblust und bremsen sie nicht mit verfrühten orthographischen Beckmessereien! Während des Erwerbs der Schriftsprache [5] ist vom Lernenden die phonetisch angemessene Schreibung der Wörter zu erwarten, die er schreiben will. Wenn er darüber hinaus bereits in dieser Anfangszeit einen orthographisch korrekten Schreibwortschatz zu erwerben und zu sichern imstande ist, sind wir froh und unterstützen ihn dabei. Aber wir erheben diese Fortschritte nicht zur Norm; viel zu heilig ist uns die Lust des Schülers am kommunikativen Schreiben, bei dem er seine Erkenntnisse über das Buchstabenprinzip unserer Schrift anwendet und vertieft.

Wesentlich für den Erwerb der Schriftsprache ist, dass er den Lernenden in die Lage versetzt, auf zunächst elementare Weise an der Schriftkultur teilzuhaben, und zwar nicht auf den erlernten Kulturtechniken aufbauend, sondern ihnen gewissermaßen vorgreifend, zu ihnen motivierend.

"Das Beherrschen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben ist keine unabdingbare, nicht einmal die wichtigste Voraussetzung zur Teilhabe an der Schriftkultur." Umgekehrt: "Die Erfahrung elementarer Schriftkultur ist Voraussetzung für die Aneignung der für das Lesen und Schreiben erforderlichen Fertigkeiten." Daher sollte Schule "als sozialer Raum für Schrift gestaltet werden. Das ist wichtig gerade für Kinder aus schriftfernem Milieu." (Mechthild Dehn auf dem Frankfurter Grundschulkongress 1989)

Noch einmal die Frage: Was ist Schreiben? Schreiben ist in kognitionspsychologischem Verständnis die schöpferische, willentlichen Bewusstseinsprozessen unterworfene Umwandlung von Gedanken (die Bezüge verkürzt und prädikativ herstellen) in die entfaltete Form schriftsprachlicher Logik (die differentielle Bezüge mit hinreichender Vollständigkeit herstellen muss, um dem kommunikativen Zweck zu genügen).

Die meisten Nichtfachleute und erschreckenderweise auch viele Lehrer sehen das Schreiben nur in seinem graphomotorischen Aspekt:Schreiben führt zu Erzeugnissen, deren Wert sich nach den Kriterien der Lesbarkeit und der ästhetischen Gefälligkeit und zusätzlich (ganz wichtig!) nach dem Kriterium der Orthographie bestimmen lässt. Manche räumen ein, Schreiben habe selbstverständlich auch und vor allem eine inhaltliche, eine kommunikative Funktion; aber da sie ohne die vorgenannten qualifizierenden Kriterien nicht zum Tragen kommen könne, müsse den Schulanfängern zugemutet werden, vor dem schriftlichen Kommunizieren dessen Voraussetzungen zu erlernen: die "Technik" und Regelgemäßheit des Schreibens.



Fehler sind Ausdruck originalen Zugriffs

Meine Zweitklässler legen sich auf ein lang genug geschnittenes Tapetenstück und verewigen dort mit einem Stift den Umriss ihres Körpers. Dann schneiden sie ihren Umriss aus und beschriften alle Körperregionen und -teile. Nach einer Weile erkundigt sich leise ein Mädchen bei mir, ob es wirklich alles hinschreiben kann, und erhält eine ebenso leise wie nachdrückliche Bestätigung. Manche Mädchen schreiben stolz oder etwas skeptisch die Wörter "Busen" und"Brüste" auf und verteidigen sich gemeinschaftlich gegen den einen oder anderen albernen Einwand neugieriger Jungen. Auch der Unterleib bleibt nur bei wenigen weiß wie ein unentdeckter Erdteil. Die meisten schreiben feierlich oder kichernd"Snidelwutz", "Pillermann", "Peniß", "Muschi", "Eier","Pipi", "Scheide", "hoden", "Brötchen", "Sack", "Pimmel","Möse", oder "Glit" und zeichnen das Benannte, aber im Umriss Fehlende ein. Wer fertig ist oder auch nicht, schaut sich das Werk der anderen an, kringelt sich vor Lachen beim Anblick mancher Wörter ("Penis - hahaha! Was ist das denn?!") und tauscht Vokabeln aus. Manche ergänzen ihre Beschriftung, manche stornieren ein Wort, wegen dessen sie sich jetzt schämen.

Bevor die Stunde zu Ende ist, hocken wir uns im Dreiviertelkreis vor die an der Tafel ausgestellten Beispielstücke (die anderen Arbeiten prangen bereits an den Wänden). Die Namen der Urheber spielen jetzt keine Rolle. Ich bringe zur Sprache, dass manche bei manchen Wörtern einen Lachkrampf bekommen haben und bei anderen Wörtern nicht. Viele Kinder beeilen sich, mir beizupflichten und nennen Beispiele. Unter einigen Mühen gelingt es uns schließlich, uns darauf zu einigen, welche Wörter "eigentlich ganz normal" und überhaupt nicht zum Lachen sind, welche Wörter zum Piepen sind, weil sie von ganz kleinen Kindern gebraucht werden, und welche Wörter deshalb "komisch" sind, weil man sie eigentlich nicht gebrauchen sollte. Eine und dieselbe Sache kann also auf sachliche Weise oder mit komisch-niedlichen oder mit"säuischen" Wörtern bezeichnet werden. Wenn wir über die Sache selbst sprechen - und das werden wir in den nächsten Tagen -, haben wir (Kinder und Erwachsene) es am leichtesten, wenn wir die sachlichen Ausdrücke verwenden. Damit wir alle sie kennen, schreiben wir sie noch in unsere Umrisszeichnung hinein und unterstreichen sie.

"Warum gibt es eigentlich auch die putzigen und die 'schmutzigen' Ausdrücke?" frage ich mich und die Kinder. Man druckst herum, kichert einander zu, und dann erfahren wir von den Mutigen, wozu die Geschlechtsteile da sind. Wieder fallen verschiedene Ausdrücke. Dass Mann und Frau "miteinander schlafen" finden die meisten gar nicht bemerkenswert, aber dieses Empfinden hat unterschiedliche Gründe, denn "miteinander schlafen" ist ja auch ein verschleiernder Ausdruck. Bevor wir nun vollends Klarheit über diese Angelegenheit gewinnen, gongt es; zwei Stunden lang haben wir ohne Pause an unserem Thema gearbeitet, d.h. eigentlich uns erst an unser Thema herangearbeitet.

Nachtrag: In der folgenden zwanzigminütigen Pause, in der ich mit ein paar Kindern das Klassenzimmer aufräume, öffnet sich fünfmal die Tür, und es sind nicht etwa Kinder, sondern drei Kolleginnen, ein Kollege und zum Schluss auch der Hausmeister, die sich wortlos ein Bild über die im Klassenzimmer der Klasse 2a aushängende Undidaktik verschaffen.

Produktorientiert unterweisende Lehrer beurteilen didaktische Praxis nach der Fehlerlosigkeit oder Fehlerhaftigkeit von veröffentlichten Schülerarbeiten. Tadellose Schülerarbeiten lassen auf einen tadellosen Unterricht schließen. Worauf anstößige Schülerarbeiten schließen lassen - darüber spricht man untereinander nur mit verbalen Andeutungen und vielsagenden Blicken.

Prozessorientiert lehrende Lehrer beurteilen didaktische Praxis nach der Offenheit und Originalität, mit der Schüler arbeiten. Freies Sprechen über Probleme und Bereitschaft zur kritischen Anhörung und eventuellen Aneignung anderer Urteile, Haltungen und Stile lassen auf einen schüler- und sachgemäßen Unterricht schließen. Worauf ein penetrant konstanter Perfektionismus in Schülerprodukten schließen lässt - darüber sollte man reden.

Fehler gilt es gegen Perfektionismus zu schützen!

Mindestens allweihnachtlich und allösterlich wiederholt er sich allüberall an den Fenstern der Grundschulen: der Schablonenschmuck. Die Lehrerin hat zu Hause Weihnachtsmänner- oder Osterhasen-Schablonen vorbereitet, die die Kinder nun nach Anleitung ausschneiden, zusammenkleben, mit Transparentpapier hinterkleben oder ausmalen. Die fertigen Arbeiten befestigt die Lehrerin an den Fenstern. Man geht nach draußen und ist mit den Vorübergehenden einig: ein schöner Fensterschmuck.

Die Fensterreihe daneben, wo I-Männchen ihre eigenständig entworfenen weihnachtlichen Figuren mit viel weniger Symmetrie und überhaupt keiner Gleichförmigkeit und ganz und gar keiner warenästhetischen Perfektion zum besten geben, macht sich in der sonst so vorbildlichen Schulfensterfront wie ein mickriger Fremdkörper aus. Nur die Produzenten und ihr Lehrer wissen, welche Mühe, wieviel gegenseitige Anregung und Hilfe und wieviel neues Wissen in diesen Machwerken stecken. Und das erfüllt sie mit einem gleichen, aber anders begründeten Stolz wie die anderen Klassen und Lehrer.



"Die Feldscheune brennt" - 
Wo Produktorientierung didaktischer Unsinn sein kann

In Ilse Lichtenstein-Rothers hochaktuell-klassischem Buch"Schulanfang" findet sich folgendes Beispiel:

»In einem ersten Schuljahr wurde folgende Aufgabe gestellt: "Bauer Müllers Scheune ist bei einem Gewitter in Brand geraten. Versucht einmal, diese brennende Scheune zu malen!" [...]

Statische Bildvorstellung

Die Kinder fanden drei Möglichkeiten. Für eine Gruppe bestand die Aufgabe aus zwei voneinander unabhängigen Elementen: dem Feuer und der Scheune. Sie malten Feuer und Scheune in räumlicher Trennung. Ein Zusammenhang der beiden Bildteile durch das Brennen wurde nicht hergestellt. Der Grund für diese Reaktion auf die Aufgabe kann im Fehlen des Erlebnisses einer brennenden Scheune oder irgendeines anderen brennenden Gebäudes liegen. Da die Kinder mit Feuer und Scheune jedoch isolierte Erfahrungen verbanden, realisierten sie folgerichtig beide Teile in räumlicher Trennung voneinander.

Eine zweite Gruppe begann damit, dass sie das Feuer malte und es anschließend durch ein scheunenartiges Gerüst begrenzte. So "unlogisch" diese Reaktion, misst man sie an der Realität, anmutet, so wird sie verständlich, wenn man bedenkt, dass hier dem Kind das Feuer wichtiger als alles andere war.

Eine dritte Gruppe kam dem realen Tatbestand der brennenden Scheune relativ nahe. Die Bildvorstellung dieser Kinder kann sich an Erlebtem, an Abbildungen oder filmischen Darstellungen orientiert haben. Die Scheune stand hier in Flammen, d.h. die Kinder hatten über und neben ein geschlossenes Gebäude Feuer gemalt. [...]

Aufgabe als Vorgang

Hier beschritten die Kinder zwei Wege. Einige begriffen das Feuer als eine Kraft, die zerstört. Das Zerstören kam in der ungestümen Motorik ihrer Pinselschwünge zum Ausdruck. Ein vorher gemaltes Gerüst wurde nach und nach mit roter Farbe überdeckt. Die Scheune wurde unsichtbar, das Feuer beherrschte das Bild. In der Bildsprache des Kindes bedeutete dies: Das Feuer hat die Scheune verbrannt. Begleitende Sätze wie: "Jetzt wächst das Feuer, jetzt läuft es!" machen deutlich, dass das Kind sich seiner besonderen Handlungsweise bewusst war.

Ein Kind verwirklichte den Vorgang der farblichen Veränderung des Feuers vom Ausbruch bis zum Qualmen, nachdem das Feuer eingedämmt war. Sein Feuer war erst gelb, wurde dann rot übermalt und anschließend mit schwarzem Qualm bedeckt.

Die genannten Lösungswege [...] stehen gleichwertig nebeneinander. Keiner ist wertvoller oder wichtiger, obwohl die Ergebnisse der Kinder, die die Aufgabe in einen Vorgang verwandelten, nicht unseren Vorstellungen von einem gelungenen Bild entsprechen. Sehr oft sind sie verschmiert und unansehnlich. Würde man diese Kinder kritisieren, so täte man ihnen wohl Unrecht. Sie haben ebenso wie die anderen die Aufgabe gelöst, nur in einer anderen, besonderen Weise. Sicher werden Kinder oft auch aus anderen Gründen ein verschmiertes Blatt abgeben. Hier kann nur die genaue Beobachtung der Kinder während des Malens entscheiden, was die Ursache ist.« [6]


[3] Literaturempfehlung:
Balhorn, Heiko / Vieluf, Ulrich: Fehleranalysen - ortografisch. Belege für den eigenaktiven regelbildungsprozeß von lernen. In: Diskussion Deutsch. Heft 81, Februar 1985, S. 52-68.
Bartnitzky, Horst: Sprachunterricht heute. Scriptor, Frankfurt am Main, 1987. S. 70 ff.
Bergk, Marion: Texte verfassen und dabei richtig schreiben. Vorschläge für einen ungeteilten Deutschunterricht. In:Diskussion Deutsch. Heft 81, Februar 1985, S. 69-81.
Dehn, Mechthild: Zeit für die Schrift. Lesenlernen und Schreibenkönnen. Kamp, Bochum, 1988.
Dehn, Mechthild: Über die sprachanalytische Tätigkeit des Kindes beim Schreibenlernen. In: Diskussion Deutsch. Heft 81, Februar 1985, S. 25-51.
Maas, Utz: Schrift - Schreiben - Rechtschreiben. In: Diskussion Deutsch. Heft 81, Februar 1985, S. 4-25.
Naegele, Ingrid /VAltin, Renate (Hg.): Rechtschreibunterricht in den Klassen 1-6. Grundlagen - Erfahrungen - Materialien. Arbeitskreis Grundschule e.., Frankfurt am Main, o. J.
Schäfer, Uschi: Freies Schreiben. In: Die Deutsche Schule 4/89, S. 488-495.
Spitta, Gudrun: Kinder schreiben eigene Texte. Cornelsen, Bielefeld, 1985.
Tatz, Jürgen: Freie Arbeit. In: Die Deutsche Schule 4/89, S. 496-504.
VAltin, Renate / Naegele, Ingrid (Hg.): Schreiben ist wichtig! Grundlagen und Beispiele für kommunikatives Schreiben(lernen). Arbeitskreis Grundschule e.., Frankfurt am Main, 1986.

[4] Nadine, eines der intelligentesten Kinder der Klasse, schrieb in den ersten Schulwochen ihren Namen in korrekter Orthographie. Kaum hatte sie aber im Oktober das Aufbauprinzip der Buchstabenschrift erkannt, weigerte sie sich, das "falsche" E an ihren Namen anzuhängen. Sie verunsicherte Nicole und Janine durch ihre Versuche, sie davon zu überzeugen, dass auch in ihren Namen kein E vorkomme (Beweise: "toll"; "Benjamin" und nicht"Benjamine"). Erst im letzten Drittel des ersten Schuljahres schrieb sie nicht mehr "nadin" und "Nadin", nun auch stolz darauf, einen französischen Vornamen zu haben.

[5] Vorausgesetzt, der Unterricht wird nicht vom Fibeltrott beherrscht, schließen manche Kinder diese Phase schon Wochen vor den Weihnachtsferien ab; andere brauchen dafür noch viel Zeit bis tief ins zweite Schuljahr hinein!

[6] Huisken, Freerk: Möglichkeiten eines fachspezifischen Kunstunterrichts am Schulanfang. In: Lichtenstein-Rother, Ilse:Schulanfang. S 372 f. Diesterweg, Frankfurt am Main, 1969 (7. Aufl.).