Gerhart Dieter Greiß

Grundschulpädagogische Fragen

Heimliche Theorien - eine Art STASI in Köpfen

Offener Unterricht ist unüblich. Nur das Übliche ist gegen Legitimationsdruck geimpft. Die Rede von übergeordneten Bildungs- und Erziehungszielen, die bekanntlich einen offenen Unterricht erfordern, verkümmert zum beschaulichen Wort zum didaktischen Sonntag. Das Übliche wird als das Praktikable, das Praktikable als das Vernünftige und Reale, die Realität als das Bewährte, das Bewährte als das Einzig-Bewahrenswerte festgeschrieben. Wie ein Goldhamster im Rade gelangt solch heimliche Theorie nicht aus dem Kreis des (individuell oder traditionell) bisher immer schon Praktizierten heraus. Ihr Zweck ist die Abschirmung der Praktiken, auf die sie - sich selbst auch abschirmend - verweist: die Abschirmung von Bewertungen oder Ansprüchen, die die bisherige Erfahrung in Frage stellen könnten. Sie erzeugt durch die Unterstellung, Praxis verstehe und rechtfertige sich aus sich selbst, das Gefühl der Sicherheit im und für den Alltag. 
Wie die theoretische Kompetenz noch nicht die Gewähr für ihre"funktionierende" Umsetzung in praktisches Handeln bietet, garantiert auch die praktische Kompetenz - als Fähigkeit, funktionierende Praxis zu gestalten - nicht die Vernunft dieses Funktionierens und dieser Praxis und ihrer Prämissen. Der Pragmatismus des Alltags, seine Routinen und Selbstverständlichkeiten halten sich die Fragen nach dem Sinn eben dieses Alltags und nach vielleicht möglichen Alternativen fern und bleiben blind "gegenüber den den Alltag bestimmenden Zwängen, also gegenüber Unrechtsstrukturen, ... gegenüber eingefahrenen Rollenstrukturen", "ebenso gegenüber historisch-politischen Randbedingungen, die sie [die Alltäglichkeit] prägen, also den gegebenen Lebensmustern technischer Rationalität, des Effektivitätsdenkens, der Konkurrenzanstrengung, des Leistungs- und Konsumzwangs".1 
Eine Schule, die sich als "das möglichst zu optimierende Unternehmen zur Produktion von hohen Punktwerten in Leistungstests" versteht und ihren sozialen Rahmen als Austausch von Leistungen gegen Noten statt als Ort für das "je unwiederbringliche Gespräch zwischen Menschen" definiert, reproduziert unter Preisgabe ihrer pädagogischen Eigenverantwortlichkeit zweckrationale, funktionalistische gesellschaftliche Tendenzen, die einer Weiterentwicklung der Gesellschaft im Sinne der Humanisierung und des Ausbaus von Selbst- und Mitbestimmungsmöglichkeiten entgegengesetzt sein können. (Heinrich Winter, 1984) 
Notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung für vernünftiges Handeln ist ein theoretisch strukturiertes Bewusstsein, das die Zusammenhänge zwischen den (eigenen) theoretischen Grundlagen und der (eigenen) Praxis klärt, und darüber hinaus reflexive Kompetenz, mit der sowohl die Praxis als auch ihre theoretische Grundlegung der praktischen Vernunft unterstellt werden können. Der hohe Anspruch und die Schwierigkeit dieser Reflexionsleistung liegt darin, dass sie um der Vernunft der Praxis willen eine kritische Distanz von dieser Praxis und ihren Grundlagen erfordert. Aber "die Zweckmäßigkeit handwerklicher, technischer und künstlerischer Aktivität" lässt sich nun einmal "erst von den Zielen her entscheiden [...], zu deren Verwirklichung sie eingesetzt werden". [2]