Grundschulpädagogische Fragen

Für offene Rechnungen gibt es ein Zahlungsziel. 
Offener Unterricht kann im Ergebnis nicht unverbindlich sein.

Wo spontan und original gelernt wird, sollte das Lehren begleitende und unterstützende Funktion haben. Planvoll, systematisch und kleinschrittig gelenktes Lernen ist nicht an sich schon effektiver als sich ergebendes, suchend-entdeckendes und von Vorläufigkeiten und Sprüngen gekennzeichnetes Lernen.

Offene und lehrerbestimmt-durchgeplante Unterrichtsansätze schließen einander nicht aus, sondern stehen wegen ihrer unterschiedlichen Funktion in einer Beziehung der wechselseitigen Ergänzung.

Mindestens ebenso gründlich wie bei der Vorbereitung festgelegten Unterrichts muss sich der Lehrer bei der Vorbereitung offenen Unterrichts mit der Frage auseinandersetzen, auf Grund welcher internen (psychologisch verstehbaren) und auf Grund welcher externen (arrangierbaren) Bedingungen es wahrscheinlich erscheinen kann, dass sich die Aktivitäten der Schüler nicht in der Reproduktion der eh schon vorhandenen Qualifikationen erschöpfen. Diese Klärungen und Betrachtungen sind für einen Unterricht, in dem Planung in ihrer Angebotsfunktion verstanden wird, unverzichtbar, wenn er nicht in Zufälligkeiten abgleiten soll. Seine Steuerungsfunktion, die der Lehrer im offenen Unterricht zurücknimmt, muss greifen können, wenn sie gefordert ist; und der Lehrer muss darauf vorbereitet sein, dass seine Steuerungsfunktion tatsächlich gefordert sein wird. Somit ist die Ermittlung der individuellen Lernstände, der motivationalen und formalen Lernvoraussetzungen und der externen Lernbedingungen unerläßlicher Bestandteil der Vorbereitung auch offenen Unterrichts.

Die Überlegungen zur Wochenplan-, Werkstatt- und Stationsarbeit dürfen sich nicht auf die Frage beschränken, wie der organisatorische und soziale Rahmen und wie die Materialien beschaffen sein müssen, damit sie den Schülern ein selbstgesteuertes Arbeiten ermöglichen. Mindestens gleich wichtig sind folgende didaktische Betrachtungen:

Betrachtungen, die bei den Lernerfordernissen und -bedürfnissen ansetzen: Ermittlung der individuellen Lernmöglichkeiten und bedürfnisse der Lernenden; Bestimmung der für die weitere Lernentwicklung der Lernenden erforderlichen Lernschritte; Entwicklung von Arbeitsangeboten, die zu der bestimmten Lernausgangslage der Lernenden passen und ihre weitere Lernentwicklung anstoßen und unterstützen können; Modifikation der Arbeitsangebote unter dem Gesichtspunkt der Individualgerechtigkeit (differenzierten Passung): Welche Inhalte und welche Arten der inhaltlichen Konkretionen (Thematisierungen, Anforderungen, methodischen Ansätze) können den besonderen Lernerfordernissen, Lernmöglichkeiten und Lernbedürfnissen der einzelnen Lernenden differenziert genug gerecht werden?

Betrachtungen, die bei den Lernumgebungen und -aufgaben ansetzen: Bestimmung der für die weitere Lernentwicklung der Lernenden erforderlichen Lernschritte und Ermittlung der individuellen Lernmöglichkeiten und -bedürfnisse der Lernenden; Explikation des in den Arbeitsangeboten implizierten didaktischen Potentials im Hinblick auf die weitere Lernentwicklung der Lernenden (didaktische Relevanz der Arbeitsangebote); Überprüfung des in den Arbeitsangeboten implizierten didaktischen Potentials auf Individualgerechtigkeit (Differenziertheit): Werden die Arbeitsangebote in ihren Inhalten und in den Arten der inhaltlichen Konkretionen (Thematisierungen, Anforderungen, methodischen Ansätze) den besonderen Lernerfordernissen, Lernmöglichkeiten und Lernbedürfnissen der einzelnen Lernenden differenziert genug gerecht?

Bei aller Vielfalt der gleichzeitig präsenten Handlungs- und Arbeitsangebote muss der Unterrichtende die notwendige Übersicht über die in ihnen implizierten fachlichen Lehrziele/Lernziele und über die aktuellen individuellen Lernmöglichkeiten behalten. Es gilt, didaktische Instrumente intensiv zu nutzen, die die lehrzielspezifischen Lernentwicklungen der einzelnen Kinder einer präzisen analytischen Beobachtung und einer individuumsgerechten Unterstützung zugänglich machen.

Es gibt Lehrer, die sich in hohem Maße auf die Gestaltung offener Lernlandschaften mit impliziten Thematisierungsmöglichkeiten oder auf den Aufbau vorstrukturierter Lernumgebungen mit expliziten Themenangeboten (Werkstattarbeit) oder auf die Organisation von individualisierenden Formen der Lernprogrammierung (programmierte Instruktion, Wochenplanarbeit) verstehen und darin das pädagogische Non-plus-Ultra sehen. Diesen Kollegen und -innen sei Anerkennung ausgesprochen, aber auch zu bedenken gegeben, dass sie bei überwiegender oder ausschließlicher Gestaltung des Unterrichts nach diesen Konzeptionen ihren Schülern wahrscheinlich wesentliche Lernerfahrungen vorenthalten. Diese Kritik ist unter drei Aspekten zu präzisieren:

a) Wochenplanarbeit darf nicht zu einer Abarbeitung eines verordneten Pensums verkümmern. Die Auswertung von Schülerarbeiten, die operative Zusammenhänge zum Inhalt haben, muss über die Ergebniskontrolle hinausreichen und erfordert eine nachbereitende Denkarbeit.

b) Vielfach ist bei Unterrichtsbesuchen festzustellen, dass die geschaffenen räumlich-materiell-motivationalen „Landschaften“ oder „Umgebungen“ konsequent bis in die Schülerarbeit hinein und bis zu deren Abschluß bloßen Angebotscharakter behalten, ohne dass die Schüler und die Unterrichtenden von der anheimgestellten Annahme der angeregten Tätigkeiten zur Wahrnehmung ihres Anspruchsgehalts vordringen, den es zu erkennen gilt und der Lernarbeit erfordert. Hier versagt der Unterrichtende, indem er den Schülern seine pädagogische Führungsrolle versagt, obwohl er in offeneren, den Klassenverband zeitweise auflösenden Unterrichtsformen viel mehr und viel tiefere Erkenntnisse über die Lernmotive, -ansätze, -wege, -irrtümer und -notwendigkeiten seiner Schüler gewinnen kann als im Klassenunterricht.

c) Oft versäumen Lehrer, die didaktische Energie, die in den Lernirrtümern und in der Divergenz der Lernansätze und -wege ihrer Schüler liegt, aufzuspüren und zum Motor einer themazentrierten Auseinandersetzung im sozialen Verband zu machen. Diesen Kollegen und -innen sei die Lektüre der klassischen pädagogischen Werke eines Friedrich Copei, eines Martin Wagenschein oder eines Heinrich Roth ans Herz gelegt. Mögen sie aufmerksamer werden auf die pädagogischen Möglichkeiten, die in spannenden, vom Lehrer behutsam, aber doch absichtsvoll geführten Unterrichtsgesprächen wegen ihrer gedanklichen und sozialen Dynamik liegen; und mögen sie kritischer werden gegenüber ausschließlichem, zwar wohltemperiertem, aber entspannt und linear dahinplätscherndem Stations- oder Wochenplanbetrieb.

Denjenigen Lehrern aber, die sich und ihren Unterricht zu wenig ihren Schülern öffnen, die den Klassenraum in eindeutige Lehrer- und Schülerreviere einteilen und im Anwenden von darbietenden und fragend-entwickelnden Unterrichtsschemata erstarrt sind, sei empfohlen: Mögen sie aufmerksamer werden auf die Eigendynamik, mit der die Lernprozesse jedes einzelnen Schülers in Gang kommen und ablaufen; und mögen sie kritischer werden gegenüber den Scheinerfolgen von Fremdbestimmung und Eiskanaldidaktik!