Bruch und Bruchteil;
mathematischer/mathematikdidaktischer Repräsentationsbegriff
und kognitionspsychologischer Repräsentationsbegriff

Kommentierung von Stellen in einem schriftlichen Unterrichtsentwurf zum Thema "Bruchbegriff" (6. Schuljahr).
Von GDG hervorgehobene Stellen im Text des Unterrichtsentwurfs
Von GDG eingefügter Kommentar

»In der Stationsarbeit wird im Wesentlichen auf die ikonische, symbolische und enaktive Darstellungsform von Brüchen zurückgegriffen.«

Brüche sind Terme (also Zeichen) für Bruchteile (Größenverhältnisse).

stimmt | stimmt nicht

Sie sind mithin symbolische Darstellungen von etwas Abstraktem.
stimmt | stimmt nicht

Jetzt würde ich (GDG) gern wissen,
a) was unter einer "ikonischen Darstellungsform" einer symbolischen Darstellung verstanden werden kann: ,
b) was unter einer "enaktiven Darstellungsform" einer symbolischen Darstellung verstanden werden kann: und
c) was unter einer "symbolischen Darstellungsform" einer symbolischen Darstellung verstanden werden kann: .

Bitte klären Sie für sich, was die Kognitionspsychologie der Brunerschen Schule* über die Repräsentationsmodi und ihre didaktische Relevanz sagt.
Wenn jemand einen Bruchteil zeichnerisch konkretisiert/realisiert/modelliert/darstellt, handelt er, nicht wahr?
stimmt | stimmt nicht

Zeichnen ist doch eine Handlung, oder etwa nicht?
stimmt | stimmt nicht

Diese Handlung selbst ist aber im kognitionspsychologischen Sinne ebenso wenig eine "enactive representation" wie eine Zeichnung eine "iconic representation" ist. Repräsentationen in den verschiedenen Modi sind die kognitiven, im Hirn des Menschen vorhandenen Instrumente und Bausteine zur Wiedervergegenwärtigung von Elementen der erfahrenen und kognitiv erfassten Welt, nicht die äußerlich wahrnehmbaren Tätigkeiten, bildlichen Darstellungen und Sprachäußerungen selbst.
* Bruner, J. S. (1971). Über kognitive Entwicklung. In: J. S. Bruner, R. R. Olver & P. M. Greenfield (Hrsg.), Studien zur kognitiven Entwicklung (S. 21-44). Stuttgart: Klett.
gelesen | nicht gelesen

»Die ikonische Darstellung findet ihre Anwendung beispielsweise bei der Darstellung von Brüchen durch Kreisdiagramme.«

Man muss sich diesen Satz einmal auf der Zunge zergehen lassen. Trotz aller Bombastizität ("ikonisch", "findet Anwendung") sagt er nicht mehr aus, als was Lieschen Müller mit dem Satz "Brüche kann man durch Kreisdiagramme veranschaulichen" oder mit dem Satz "Kreisdiagramme veranschaulichen Brüche" unanfechtbar auszudrücken wüsste. Soviel zum inflationären (aufgeblasenen, blähenden, gehaltlich gegen Null strebenden) Gebrauch/Missbrauch der Bezeichnung "ikonische Darstellung". Weder ein normaler noch ein in der Brunerschen Kognitionspsychologie sich auskennender Mensch sagt das, wenn er von einer bildlichen oder grafischen Darstellung sprechen will; er sagt: "bildliche Darstellung" oder "grafische Darstellung" oder noch kürzer und ebenso treffend: "Bild" oder "Grafik".
stimmt eigentlich | stimmt natürlich

Wenn wir aber die kognitionspsychologische Relevanz einer Grafik hervorheben wollen, dann sollten wir dies so tun: Eine Grafik, in der ein Teil von einem Ganzen hervorgehoben ist, kann der Veranschaulichung des Bruchteils dienen, den dieser Teil vom Ganzen ausmacht. Oder: Eine Grafik, in der ein Teil (oder Teilstücke) von einem Ganzen hervorgehoben ist (sind), kann der Veranschaulichung des Anteils dieses Teils (oder dieser Teilstücke) am Ganzen dienen. Wenn wir sagen: "Eine Grafik, in der ein Teil (oder Teilstücke) von einem Ganzen hervorgehoben ist (sind), kann als Modellierung/Konkretisierung/Repräsentation*/Realisierung/Anwendung/Darstellung eines Bruchteils aufgefasst** werden.", dann ist das wohl mathematisch richtig, aber die didaktische Relevanz dieser Aussage wird erst in folgender Ergänzung, die eine zentrale kognitionspsychologische These ist, expliziert: Die (bildliche) Modellierung eines abstrakt-mathematischen Sachverhalts ist notwendige Voraussetzung für den Aufbau einer Anschauung/Vorstellung/(iconic) representation***/(ikonischen) Repräsentation*** dieses mathematischen Sachverhalts. Diese kognitionspsychologische These wird noch verschärft durch den Nachsatz: Dies gilt im besonderen Maße für (bildliche) Modellierungen, die der Lernende selbst entwirft und durchführt, zumal wenn nicht eigentlich bildhafte Vorstellungen als statisch feststehende Raumlage-Konstellationen das Ziel des Lernprozesses sind, sondern die Operationen, die der Konstruktion und der Rekonstruktion einer (mathematischen) Struktur dienen.
Entscheidend sind nicht etwa die bildlichen Darstellungen von Bruchteilen, sondern sind die rekonstruierenden und konstruierenden Operationen (die bekanntlich gedankliche Vorgänge sind) an ihnen; der Vollzug dieser Operationen ist beim Mathematisieren (Herausfinden, welcher Bruchteil in einer Grafik dargestellt ist) und beim (bildlich darstellenden) Modellieren gefordert und soll gefördert werden.
* Achtung! Hier ist der mathematische Repräsentationsbegriff angewandt, nicht etwa der kognitionspsychologische!
** "Auffassen" nicht im Allerweltssinne, sondern im kognitionspsychologischen Sinne!
*** Achtung! Hier ist nun wirklich der kognitionspsychologische Repräsentationsbegriff angewandt!