Gerhart Dieter Greiß

Ausbildungsleiter am Studienseminar für die Lehrämter in Korbach

Beispiel für die Vorbereitung des Mathematiklehrers auf einen Problemlösungsprozess:

Den Mittelpunkt eines Kreisbogens finden

(8. Klasse)

Die einfache Feststellung, wie der Mittelpunkt eines Kreises zu finden ist, von dem ein Bogen gegeben ist, genügt nicht als didaktische Vorbereitung auf einen Unterricht, in dem die Schüler dieses Verfahren selbst finden sollen. Eine solche „Sachanalyse“ ist als Bestandteil des Unterrichtsentwurfs belanglos, und ich lasse sie daher weg. Didaktisch völlig unzureichend ist es auch, methodisch einfach festzulegen, dass die Schüler sich den geometrischen Sachverhalt selbständig erarbeiten sollen. Mit Schlagwörtern wie „selbstgesteuertes Lernen“, „schülerorientierter“, „handlungsorientierter“, „problemorientierter“, „entdeckenlassender“ Unterricht lassen sich die Voraussetzungen und Prozesse, unter denen meinen Schülern die Lösung des Problems gelingen kann, nicht herbeizaubern. Vielmehr muss ich in einem „Gedankenexperiment“ (Hans Freudenthal)1 die Dynamik und den Inhalt der Denkschritte vorklären, mit denen meine Schüler dem Problem auf die Spur kommen können. Erst nach einer solchen didaktischen Vorbereitung, in der geometrisch-sachverhaltliche und denkpsychologische Aspekte vereint sind, kann ich entscheiden, in welchem Maße meine Schüler der Führung bedürfen und welche Lernhilfen sie möglicherweise benötigen werden.

Wo ist der Mittelpunkt des gegebenen Kreisbogens b?

1. Was weiß ich über die Beziehung zwischen dem Kreisbogen und dem zugehörigen Kreismittelpunkt?

→ Gesucht ist derjenige Punkt (in der Figurebene), der von jedem Bogenpunkt gleich weit entfernt ist. Die Strecken zwischen beliebigen Bogenpunkten und Kreismittelpunkt sind Kreisspeichen; ihre Länge ist der Kreisradius.

→ Gesucht ist der Kreisradius. Wenn ich ihn kennte, könnte ich Kreisbogen mit dem bekannten Radius um zwei beliebige Punkte des Bogens b schlagen; [] die Hilfskreisbogen würden sich in zwei Punkten schneiden, und einer dieser Schnittpunkte wäre der gesuchte Kreismittelpunkt.

Nun ist mir der Radius aber nicht bekannt. Mir fehlt zunächst jeder Anhaltspunkt für eine Problemlösung. Da ich nicht experimentieren, sondern konstruieren will, wähle ich den Weg des Gedankenexperiments:

2. Wenn ich den Kreismittelpunkt bereits gefunden hätte, dann könnte ich den gegebenen Kreisbogen b zu einem Kreis ergänzen. [] Angenommen, dies (siehe die Zeichnung!) wäre dieser Kreis. Welche Beziehungen im Kreis (allgemein) kann ich mir an diesem Kreis klarmachen?

a) Das Dreieck P1MP 2 ist gleichschenklig; denn zwei seiner Seiten, P1M [] und MP2, sind Kreisspeichen, also gleich lang.

b) M ist der Scheitelpunkt des gleichschenkligen Dreiecks P1MP 2. Diesem Scheitelpunkt liegt die Seite P1P 2 gegenüber; P1P2 ist die Basis des gleichschenkligen Dreiecks P 1MP2. Der [] Scheitelpunkt eines gleichschenkligen Dreiecks liegt immer auf dessen Symmetrieachse. Symmetrieachse im gleichschenkligen Dreieck ist die Mittelsenkrechte auf der Basis, hier also die Mittelsenkrechte auf P1P 2.

c) M ist aber nicht nur Scheitelpunkt des gleichschenkligen Dreiecks P 1MP2, sondern auch der Mittelpunkt des Kreises, auf dem P1 und P2 liegen.

P1P 2 ist nicht nur die Basis des gleichschenkligen Dreiecks P1MP 2, sondern auch eine Sehne des Kreises, auf dem P1 und P 2 liegen.

Der Mittelpunkt des Kreises, auf dem P1 und P2 liegen, ist folglich ein Punkt auf der zur Kreissehne P 1P2 gehörenden Mittelsenkrechten („geometrischer Ort“).

3. Damit ist die Lage des Kreismittelpunkts aber noch nicht eindeutig bestimmt.

a) Wäre die ganze Kreislinie gegeben, dann wäre die Strecke AB zwischen den beiden Schnittpunkten der Sehnenmittelsenkrechten mit der Kreislinie der Kreisdurchmesser (weil die Sehnenmittelsenkrechte Zentrale ist, also durch den Kreismittelpunkt läuft, und weil jede Strecke zwischen [] zwei Kreislinienpunkten, die den Kreismittelpunkt enthält, Durchmesser des Kreises ist). Ich bräuchte dann nur den Mittelpunkt des Durchmessers AB zu bestimmen und hätte somit den Kreismittelpunkt gefunden.

b) Nun ist aber nur ein Stück der Kreislinie gegeben. Immerhin ist das Problem, zu dem gegebenen Kreisbogen den Kreismittelpunkt zu finden, jetzt auf das Problem reduziert, einen zweiten „geometrischen Ort“ für den Kreismittelpunkt zu finden. Der Schnittpunkt beider geometrischer Örter wäre dann der Kreismittelpunkt.

c) Welcher zweite „geometrische Ort“ kommt in Betracht? Ich walke die geometrischen Zusammenhänge gedanklich durch:

Die aus einer Kreissehne und dem zugehörigen Bogen bestehende Figur (ein Kreissegment) ist symmetrisch; Symmetrieachse ist die zur Sehne gehörende Mittelsenkrechte; [] diese Sehnenmittelsenkrechte ist zugleich Symmetrieachse des Bogens über der Sehne; da der Kreisbogen konstant gekrümmt ist, gibt es auf seiner Achse genau einen Punkt, der von allen Bogenpunkten gleich weit entfernt ist; dieser Punkt erfüllt somit für den betrachteten Bogen die [] Problemlösungsbedingung; er erfüllt sie auch für jede krümmungskonstante Fortsetzung des betrachteten Bogens; folglich ist er der gesuchte Kreismittelpunkt, und die Sehnenmittelsenkrechte ist eine Symmetrieachse des ganzen Kreises, zu dem der Bogen gehört; die Sehnenmittelsenkrechte ist somit eine Zentrale des ganzen Kreises. Jede Sehnenmittelsenkrechte ist eine Kreiszentrale; jeder Kreisdurchmesser ist ein Teilstück einer Zentralen dieses Kreises; alle Zentralen eines Kreises schneiden sich im Mittelpunkt dieses Kreises.

d) Was also einmal hilfreich war, wird auch ein zweites Mal hilfreich sein: Ich brauche eine zweite Zentrale, eine zweite Sehnenmittelsenkrechte; auch auf ihr wird der Kreismittelpunkt liegen. Der Schnittpunkt beider Sehnenmittelsenkrechten wird der Kreismittelpunkt sein. Die zweite Sehnenmittelsenkrechte wird zu einer Sehne gehören, die ich jetzt bestimme. Bei der Festlegung dieser zweiten Sehne bin ich (fast) frei: Ich lege zwei Bogenpunkte P 3 und P4 [] fest, so dass gilt: P1P 2 ist nicht parallel zu P 3P4 (bei P1P 2 || P3P 4 wären die Mittelsenkrechten identisch). Dann zeichne ich die Mittelsenkrechte zu P 3P4 und erhalte den gesuchten Schnittpunkt der beiden Sehnenmittelsenkrechten als Mittelpunkt des Kreises, zu dem der Bogen b gehört.

4. Das Problem ist gelöst. Damit aber die Lösung Bestandteil meines Repertoires an operationalem Wissen werden kann, rekapituliere ich die wesentlichen Stationen des Lösungsprozesses und verdichte ihn zu einer Handlungsregel: Wenn ein Kreisbogen gegeben ist und der zugehörige Kreismittelpunkt gesucht ist, lege ich zwei Sehnen zu diesem Bogen fest und zeichne die Mittelsenkrechten zu diesen beiden Sehnen; der Schnittpunkt der Sehnenmittelsenkrechten ist der gesuchte Kreismittelpunkt.

Welche Struktur hat dieser Problemlösungsprozess?

1. Lokales Ordnen der mir bekannten Beziehungen zwischen den das Problem konstituierenden Elementen, hier: Beziehung zwischen (gegebenem) Kreisbogen und (gesuchtem) Kreismittelpunkt. Dadurch Orientierung in dem zum Problem gehörenden Sachverhaltsbereich; Aktualisierung des operational möglicherweise dienlichen Wissens; durchspielendes Erkunden möglicher Problemlösungszugänge.

2. Die Beziehung zwischen den das Problem konstituierenden Elementen liefert mir in diesem Fall noch keinen Zugang zur Problemlösung. Daher: vorwegnehmende Stellvertretung der Lösung (Lösungsfigur) durch einen vollständigen Kreis mit ausgezeichnetem Mittelpunkt. Lokales Ordnen der mir bekannten Beziehungen zwischen den die vorweggenommene Lösung konstituierenden Elementen, hier: Beziehung zwischen der zum gegebenen Kreisbogen gehörenden Sehne und dem Kreismittelpunkt. Aktualisierung des operational (möglicherweise) dienlichen Wissens (hier: Beziehungen im Dreieck mit der Sehne als Basis und dem Kreismittelpunkt als Scheitelpunkt). Gewinnung einer Teillösung.

3. Verdichtende Rekapitulation des Lösungsansatzes, der zur Teillösung geführt hat; dadurch wird eine Neuformulierung des nunmehr einfacher gewordenen Problems möglich. Nochmalige (variierte) Anwendung des Lösungsansatzes führt zur Lösung (die übrigens eine Einsicht ist: das erworbene Wissen ist auf Zusammenhänge gegründet und übertragbar).

4. Rekapitulation des Lösungsweges; (sprachliches) Verdichten des Lösungsweges zu operationalem Wissen.

Diese Struktur mache ich zur Grundlage des Unterrichtsverfahrens.2 Ich bin überzeugt, dass die Schüler bei diesem komplexen Problemlösungsprozess intensiver Unterstützung bedürfen, und zwar a) um zum Ziel gelangen zu können und b) um zu lernen, wie man Probleme überhaupt angehen kann (Heurismen). Daher erscheint mir das Verfahren des geführten Entdeckens, also (aus Lehrersicht) des fragenden Entwickelns, angebracht.

Die zentralen Erarbeitungsschritte müssen methodisch prägnant gestaltet werden:

* Fixierung von Denkschritten an der Tafel, gleichsam als Protokoll der Denkarbeit, auf das man sich bei der Weiterarbeit beziehen kann;

* Prägnanz des Sprechens und Zeigens (auf Schüler- wie auf Lehrerseite!);

* Verlangsamung und Verdichtung.


Anmerkungen

1: Freudenthal, Hans: Mathematik als pädagogische Aufgabe. Band 1. Stuttgart: Klett. 1977, 2. Aufl. S. 7.

2: „Die Unterrichtsmethode muss der methodischen Struktur der jeweiligen [didaktisch bestimmten] Thematik adäquat sein.“ Klafki, Wolfgang: Probleme einer Neukonzeption der didaktischen Analyse. Schriftenreihe des Pädagogischen Instituts der Landeshauptstadt Düsseldorf. Heft 34, 1977.
Vgl. auch Roth , Heinrich: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Schroedel, Hannover 1970.