Mathematikdidaktische Ausbildung

In der mathematikdidaktischen Ausbildung geht es nicht nur um die Befähigung, mathematische Lernprozesse fachgerecht zu planen, in Gang zu setzen, zu fördern und zu erfolgreichem Abschluss zu führen. Mathematikunterricht kann nicht allein stoffdidaktisch grundgelegt und legitimiert werden; vielmehr gilt es, auch die pädagogischen Fundamente des Mathematikunterrichts zu bedenken:

* Der Mathematikunterricht ist wie jeder Unterricht dem Prinzip der Beziehungshaltigkeit (Relevanz für die Lebenswirklichkeit; Kohärenz und strukturelle Transparenz) allen Lernens unterworfen.

* Mit der strengen Mathematik als einem „ in sich selbst ruhenden System von Begriffen und ihren gegenseitigen Beziehungen “ [Helge Lenné, Analyse der Mathematikdidaktik in Deutschland] ist der fachliche Hintergrund des Mathematikunterrichts nicht kongruent. Vielmehr sind die geistigen Prozesse, mit denen Mathematik generiert wird, der fachliche Hintergrund und damit die didaktische Grundlage des Mathematikunterrichts.

* Die Frage nach der Aufgabe des Mathematikunterrichts ist anthropologisch, nicht innerfachlich zu klären. Unterricht in Mathematik hat sich an der Frage zu orientieren, was Mathematik für den Menschen bedeute. Die Schüler anzuregen und sie darin zu unterstützen, die Mathematik ihrer Erfahrung und ihrer Intentionen zu entwickeln, damit ihre Erfahrung und ihre Intentionen gedanklich verdichtet und vertieft praxisbestimmend werden können - darin besteht der spezifische fundamentale Bildungsauftrag des Mathematikunterrichts. Mathematikunterricht sollte daher primär Unterricht im Mathematiktreiben, nicht Unterricht in Mathematik sein, ein Durcharbeiten tatsächlich erlebter Lebenssituationen, zu dem auch (nicht nur!) das Entwickeln desjenigen mathematischen Spezifikums der konkreten Situation gehört, das für das Handeln in dieser konkreten Situation von Bedeutung ist.

- Um in seiner Lebenswelt sich zurechtfinden und mit Orientierung handeln zu können, strukturiert man sie gedanklich -: man treibt Mathematik.
- Damit man beim Lösen von Problemen nicht immer wieder aufs neue auf die Erfahrung mit ihren Um- und Irrwegen angewiesen ist, macht man seine Lebenswelt „berechenbar“ -: man treibt Mathematik.
- Dazu verschafft man sich Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeiten, schafft man sich Maße und entwickelt man handhabbare Modelle -: man treibt Mathematik.
- Die mathematischen Einsichten und das mathematische Instrumentarium müssen gedanklich „verwaltet“ werden: ihre innere Widerspruchsfreiheit muss überprüft, ihre Ökonomie optimiert werden, und aus der Klärung ihres Beziehungsgeflechts können neue Einsichten, Instrumente oder Techniken gewonnen werden -: man treibt Mathematik.

* Auch im Mathematikunterricht ...
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihnen das zu Lernende hinreichend viel bedeutet (Prinzipien der Kindgemäßheit und der Gegenwartsbedeutung);
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihnen möglich ist, ihre  jeweils bereits vorhandenen Fähigkeiten zur Anwendung und zur Entfaltung zu bringen (Prinzip des aktiven Erarbeitens);
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass sie ihren aktuellen individuellen Lernvoraussetzungen entsprechend gefordert und gefördert werden, und zwar ohne Fixierung auf diesen aktuellen individuellen Stand und ohne festgeschriebene Aussonderung (Prinzip der integrierten Differenzierung);
... haben die Lernenden Anspruch darauf, dass ihre personale Ganzheit und soziale Einbindung respektiert wird (Prinzip der Orientierung am Lernenden als Subjekt und Prinzip des sozialen Lernens).

* Die zentralen Fragen, von denen man sich bei der Vorbereitung und Durchführung seines Unterrichts unter dem Aspekt der Kindgemäßheit leiten lässt, zielen nicht nur darauf, eine optimale Passung von „sachstrukturellem Entwicklungsstand“ [Heinz Heckhausen, Förderung der Lernmotivierung und der intellektuellen Tüchtigkeiten] der Lernenden und Schwierigkeitsgrad der Lernaufgabe zu erreichen, oder darauf, das Lernen durch eine geeignete methodische Zergliederung des Unterrichtsgegenstands zu erleichtern und durch eine dramaturgisch geschickte Unterrichtsgestaltung zu stimulieren. Entscheidend ist, in welchem Maße es gelingt, a) die persönlichen Bezüge des Kindes zu den Phänomenen, sein Interesse, seine Sinnfragen und b) die gesellschaftlichen Bedingungen heutiger Kindheit zu berücksichtigen.

* Bevor er unter Hinweis auf Zeitmangel die Beteiligung des Mathematikunterrichts an umfassenden Bildungsaufgaben zurückweist oder zurechtstutzt, sollte der Mathematiklehrer die Unterrichtspotentiale freisetzen, die von ökonomisch zweifelhaften Elementen seiner Unterrichtsgestaltung verschüttet sind.
Solche ökonomisch zweifelhaften Elemente der Unterrichtsgestaltung sind namentlich: 
- disziplinierende statt motivierende Unterrichtsführung; 
- Mangel an Transparenz der thematischen Pragmatik; 
- Kargheit der didaktischen Modellierung des mathematischen Sachverhalts; 
- Erzeugung einer passiven Grundhaltung durch unzureichende Offenheit des Unterrichtskonzepts für eine echte Teilhabe der Schüler an der thematischen und methodischen Unterrichtsarbeit; 
- am Verständnis der Schüler vorbeigehende Vollstreckung des Unterrichtskonzepts; 
- ineffektive Übungsformen und mechanismenzentrierte Übungsinhalte; 
- rituelle Abfragen und solistische Anforderungsformen; 
- ineffektive Weisen der Abgleichung von Arbeitsergebnissen.

* Sowohl die Mathematisierung (mathematische Modellierung) von Wirklichkeitsbereichen als auch die psychologisch erforderliche Durcharbeitung der erlernten mathematischen Sachverhalte als auch die Übung im Transfer (didaktische Modellierung) der erlernten mathematischen Sachverhalte erfordern einen spezifischen Unterricht, nämlich Mathematikunterricht, unter Führung eines dafür kompetenten Lehrers, nämlich eines Mathematiklehrers.

G. D. Greiß, R. a. A.