Didaktische Skizze

Erwerb des Gewichtseinheitsbegriffs im Mathematikunterricht des 3. Schuljahres

Der Aufbau des zu einem Größenbereich - hier:Gewichte - gehörenden Einheitsbegriffs ist das Zentrum der einschlägigen Lernprozesse. Er setzt den Erwerb des jeweiligen Größenbegriffs - hier: Gewicht - voraus. Der Gewichtsbegriff wiederum, der zunächst kein mathematischer, sondern ein physikalischer ist, kann nur auf der Grundlage bestimmter physischer Erfahrungen und deren erkenntnismäßiger Verarbeitung gewonnen werden: Schwere als "nach unten" gerichtete Kraft. Ebenfalls auf der physischen Erfahrungsebene, aber schon zur mathematischen Ordnungsrelation (schwerer als) und zur mathematischen Äquivalenzrelation (gleichschwer wie) überleitend, sind (qualitative, zunächst noch nicht quantitative) Gewichtsvergleiche notwendig. Der zwischen Größenerfahrung und (mathematisch durchdrungenem) Größenbereich vermittelnde zentrale Begriff ist der des Gleichgewichts.
In der alltäglichen Praxis geben und empfangen wir, Drittklässler eingeschlossen, Mengeninformationen ("wieviel?"; "mehr als / weniger als / gleichviel") auf verschiedene Weisen: Wir beziehen uns

- auf die Anzahl von Objekten (Stückgröße ),

- auf die Größe des Raums, den ein Objekt im Vergleich zu einem anderen einnimmt (Volumen) oder

- auf die Kraft, mit der ein Objekt im Vergleich zu einem anderen nach unten strebt bzw. angehoben werden kann (Gewichtskraft).

Zwar ist die Gewichtskraft (als Wirkung der Gravitation auf einen Körper) proportional zum Körpervolumen; da sie aber auch proportional zur Körperdichte ist, liefern gewichtsbezogene Mengenangaben bei Körpern verschiedener Dichte andere Informationen als volumenbezogene.
Die Klarheit über die unterschiedlichen Informationsgehalte der verschiedenen Mengenangabe-Möglichkeiten gehört notwendig zu einem ausgeschärften, operationalen Gewichtsbegriff und ist daher didaktisch höchst relevant. Das quantitative Ermitteln (Messen) von Gewichtsgrößen ist erst auf der Grundlage dieser qualitativen Erfahrungen und Einsichten möglich und sinnvoll.

Die didaktische Konstruktion eines Unterrichtsvorhabens zum Gegenstandsbereich Gewichte ist auf die so umrissene Didaktik als eine tragende Säule zu gründen.

Es ist zu klären, ob und inwiefern das Phänomen Gewicht, der Begriff der Gewichtseinheit, der Umgang mit Waagen und die Technik des Wägens zum Erfahrungshorizont der Schüler gehören und für ihre Lebenspraxis bedeutsam sind. Die Praktiken des Wägens begegnen Kindern (wie uns) in ihrem alltäglichen Erfahren und Handeln - wenn überhaupt - in kaum sinnfälliger Weise. Heutzutage wägen wir kaum noch mit Balken- oder Tafelwaage; Gewichtsstücksätze zu verwenden ist nicht mehr üblich. Bei den zunehmend gebräuchlichen elektronischen Waagen wird nicht einmal mehr die Tatsache vor Augen geführt, dass es sich bei der Gewichtsermittlung um eine Kraftmessung handelt. Phänomen und Begriff des Gleichgewichts und das Konstitutive des Gewichtseinheitsbegriffs werden uns durch unsere Lebenspraxis nicht nahegelegt. Die Bildung des Gewichtseinheits-Begriffs und die ihr notwendigerweise vorangehende Anschauungsbildung bedürfen daher einer didaktisch besonders sorgfältigen Hinführung und Lenkung. Erforderlich ist ein dem didaktisch-strukturellen Konzipieren (strukturorientierten Vorgaben etwa Griesels, Radatz' und Schippers entsprechend) vorgängiges didaktisch-reduktionales Bedenken der Möglichkeiten, den Lernenden Zugang zur Thematik zu verschaffen, und zwar nicht nur im methodischen Sinne, sondern auch im Sinne des handlungs- und erkenntnisleitenden Interesses.
Lernprozesse sollten keineswegs einer didaktischen Stufenfolge entsprechend vorstrukturiert werden, die nicht am Erfahrungswissen der Lernenden ansetzt und ihnen daher nicht sinnvoll erscheinen kann.

Gerhart Dieter Greiß
Ausbildungsleiter am Studienseminar für die Lehrämter in D-34497 Korbach