[Druckerfreundliche Fassung]

Gerhart Dieter Greiß, http://www.gdgreiss.de/seminar/mathematikdidaktik/modellierung.html

Mathematikdidaktische Modellierungsbegriffe

Modelle werden gebildet und benutzt, um sich einen sonst nicht oder schwer zugänglichen Sachverhalt erschließen zu können. Ein Modell ist mithin eine
Abbildung eines nicht oder schwer zugänglichen, schwer durchschaubaren oder abstrakten Sachverhalts auf einen anderen, handhabbaren, durchschaubaren, konkreten Sachverhalt oder eine
Abbildung eines nicht oder schwer zugänglichen, schwer durchschaubaren oder abstrakten Sachverhalts in einen anderen, handhabbaren, durchschaubaren, konkreten Gegenstandsbereich.

Modellierungen können sein:
[1] eine auslotende / erprobende / evaluierende / verifizierende Realisierung eines sprachlich / gedanklich gegebenen Sachverhalts
oder
[2] eine Veranschaulichung eines abstrakten Sachverhalts
oder
[3] eine Vereinfachung eines komplizierten Sachverhalts
oder
[4] eine Rückführung (Reduktion) eines Sachverhalts auf die Ursprungssituation und den Prozess seiner Entwicklung 
oder
[5] eine Übertragung eines unbekannten Sachverhalts auf einen gleichartigen bekannten 
oder
[6] eine Reduzierung / Zentrierung eines komplexen Sachverhalts auf seine konstitutiven Momente 
oder
[7] eine abstrahierende Ersetzung oder Stellvertretung von Handlungen in einer konkreten Sachsituation durch symbolische Operationen in einem (bereits gebildeten) System.

Modellierungen nach [7] sind - sofern das zugrundegelegte System ein mathematisches ist - Mathematisierungen. Hier werden mathematische Kenntnisse in den Dienst der Klärung von (außermathematischen) Sachverhalten gestellt. Mathematisieren (mathematische Modelle für Sachwirklichkeitsausschnitte bilden) zu lehren, ist eine der zentralen allgemeinen Bildungsaufgaben des Mathematikunterrichts auf jeder Lernstufe.
Die Grundlegung mathematischer Begriffe, Operationen, Strukturen, Systeme erfordert neben mathematischen Modellierungen auch  didaktische Modellierungen nach [1], [2], [3], [4], [5] und [6]. 



Beispiel

Wie viele Häuser hat ein Briefträger mit einer Massendrucksache zu bedienen, wenn er im Haus Poststraße 74 beginnt und im Haus Poststraße 235 fertig wird? (Die Häuser der Poststraße sind lückenlos durchnummeriert.)

Erfahrungsgemäß sehen die meisten Befragten (gleich, welchen Alters) in der einfachen Differenzbildung (235 - 74 = 161) das zum Ziel führende Lösungsverfahren. Dies ist aber eine Mathematiserung, die nicht sachgemäß ist und deshalb zu einem falschen Ergebnis führt.

Beispiele für sachgemäße Modellierungen:

Modell I

Anfang: Haus Nummer Ende: Haus Nummer Anzahl der Häuser
ursprüngliches Problem 74 235 ? → siehe unten
Operation zur Problem-Vereinfachung -73 -73  
vereinfachtes Problem 1 162 162*

* Falls hier jemand meinen sollte, wegen 162-1=161 sei 161 die richtige Zahl, muss eine weitere Problemreduzierung vorgenommen werden, am besten in Verbindung mit einer veranschaulichenden (Evidenz schaffenden) Skizze: Wenn der Briefträger beim Haus Nummer 1 anfängt und beim Haus Nummer 2 aufhört, hat er zwei Häuser bedient; macht er im Haus Nummer 3 Schluss, dann war er in drei Häusern (jetzt kann man auf die Anzahl der Nummern eines jeden Anfangsbereichs der Ordinalzahlen schließen).

Modell II

erstes Haus zweites   Haus drittes Haus viertes Haus ...* wievieltes Haus****
Hausnummer 74 75 76 77 ...** 235
operative Beziehung zur Nummer des ersten Hauses 74 + 0 74 + 1 74 + 2 74 + 3 ...*** 74 + 161

* n-tes Haus        ** an = a1 + (n-1)       *** a1 + (an-a1 )

**** Aus dem systematischen Zusammenhang zwischen der Hausnummer (an), ihrer operativen Beziehung zur Nummer des in der Folge ersten Hauses (an = a1 + (n-1)) und ihrer Stellung (Ordnungszahl) in der Folge der Hausnummern (n) ist zu schließen, dass die gesuchte Ordnungszahl n hier immer um 1 größer ist als der Differenzbetrag zwischen den Folgengliedern a1 und an.




Noch ein Beispiel

Wie viele Fugen muss ein Fliesenleger zwischen 75 in einer Reihe liegenden Fliesen verfüllen?




[busy]
[constructivism]

Stichworte:

Walter Breidenbachs Begriff der didaktischen Isomorphie (zwischen didaktisch initiierter Spielhandlung und mathematischem Zusammenhang).

Anhang:

Der eigentlich bildende Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse liegt in der Art, wie sie gewonnen werden. Sie als bloße Lerninhalte aufzufassen und von dem Erkenntnisprozess abzuschneiden, würde bedeuten, sie zum toten oder allenfalls nutzbringenden Stoff zu entwerten, der durch Gedächtnisleistung, nicht durch Leistung neugierigen, ausdauernden, produktiven, kritischen Denkens und Arbeitsverhaltens beherrscht würde. Dies aber ist unter zwei Aspekten bedenklich: 

a) Das positive Wissen veraltet schneller als die Methoden seines Erwerbs.1

b) „Es gehört zu den Gebrechen des modernen technischen Zeitalters, dass das geistige Leben mit technischen Mitteln sich in die Massen ausbreiten will, ohne dass die einzelnen wirklich an den geistigen Akten beteiligt werden, auf denen es beruht.“ (W. Flitner)2 

Sinn allen Lernens ist es, sich für kompetentes Handeln in der Welt auszustatten. Wissenschaft ist selbst nur ein Bestandteil der Welt, beschreibt sie, erklärt und bewertet sie oder baut sie gedanklich aus. Und da sie dies auf eine öllig unsinnliche, formale, kognitivistische Weise tun muss, kann Lernen für das Leben in der Welt nicht gleichbedeutend sein mit dem Erlernen wissenschaftlicher Befunde oder Methoden. Dies kann allenfalls sinnvoll sein und geleistet werden, wenn der grundlegende Bildungsprozess erfolgreich abgeschlossen ist.

Das Handeln in der Welt ist nicht nur Bildungszweck, sondern muss auch das vorrangige und überwiegende Bildungsmittel sein. In der Welt konstruktiv tätig werden zu können, setzt voraus, sie rekonstruiert zu haben und in sie habituell eingewurzelt zu sein. Diese Wirklichkeitsrekonstruktion und habituelle Einwurzelung geht mit der Herausbildung von kognitiven Strukturen und von Bewertungsmustern (als aktive Veränderung und Ausdifferenzierung vorhandener subjektiver Konzepte) einher und kann nicht durch Fremdtheorien vorbestimmt sein oder werden. Einer unmittelbaren Determinierung des Handelns durch ein theoretisches Modell steht immer die relativ eigenständige subjektive Dimension entgegen. Die Rezeption von Fremdwissen ist keine hinreichende Grundlage für eigenständiges Wirken; sie kann das reflektierte Erfahren der eigenen (jeweils vorläufigen) Rolle, der Abhängigkeiten, des Beeinflusstwerdens und der Möglichkeiten (auch der Grenzen) eigenen Wirkens und Bewirkens allenfalls erhellen, nicht aber ersetzen.1 

„Wenn ein Mensch etwas herausfinden möchte und ich ihm das Gesuchte in die Hand gebe, erkläre, um was es sich handelt, und die Wiederholung fordere, dann habe ich diesem Menschen allen Wind aus den Segeln genommen.“2 

Nicht die Definition, die mir jemand gibt, erzeugt bei mir einen Begriff. Einen Begriff von etwas muss ich mir selber „machen“. Bei diesem „Machen“ bin ich aber nicht frei von dem Kontext, den geistig zu durchdringen mein Interesse ist und der mich deshalb zur Begriffsbildung veranlasst.3 

„Zwischen den Tätigkeiten eines Mathematikers und denen eines Schülers“ besteht ein „prinzipieller Unterschied“4. Während der Mathematiker Definitionen als frei gewählte sprachliche Vereinbarungen setzt, denen kein Wahrheitswert zuzuordnen ist und zu denen es nicht einmal eine Entsprechung im Anschauungsraum geben muss, geht „bei einem natürlich ablaufenden Erkenntnisprozess [...] der Prozess der Begriffsbildung und des Begriffserwerbs dem Akt der Definition, also der Begriffsbestimmung, voraus. Leider wird diese Reihenfolge beim schulischen Lernen oft nicht beachtet oder sogar umgekehrt.“5