Gerhart Dieter Greiß

Naturverstehen

Wie Schopenhauer witzelte, ging Leibniz, „mit Allongeperücken geziert, zwischen geschorenen Hecken umher“, indem er „mit Prinzessinnen und Hofdamen [...] über «Geist und Natur» [philosophierte], unter letzterer die geschorenen Hecken, unter ersterem den Inhalt der Perücken verstehend.“

Was kann unter „Natur“ verstanden werden? Welches Naturverständnis prägt in unserer Kultur den Umgang mit Natur? Wie bewerten wir die Konsequenzen dieses Umgangs? Wie bewerten sie die Menschen mit anderer Kultur; tragen sie uns eine Änderung unseres Denkens und Handelns auf? Haben Naturverständnis und politisch-kulturelle Wertvorstellungen eine gemeinsame Wurzel, die sich deshalb hartnäckig gegen ein Hinterfragtwerden sträubt (sträuben muss), weil dieses Hinterfragen uns bedeuten könnte, dass wir - entgegen allen zivilisatorischen Sicherungen und Versicherungen - unserer Selbsteinordnung in oder -zuordnung zu WELT überhaupt nicht sicher sein können?

Thure von Uexküll1 macht auf Kleists Schrift „Über das Marionettentheater“ aufmerksam: Seit die Menschheit vom Baum der Erkenntnis gegessen habe, sei das Paradies verschlossen „und der Cherub hinter uns. Wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen steht.“ Wir müssen, so Kleist, zum zweiten Male nach dem Baum der Erkenntnis greifen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen. Das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt verstehe man aber nur, wenn man das erste Kapitel kenne.

Im Verlauf unserer Geschichte, fährt von Uexküll fort, haben wir vergessen, „dass der Mensch ursprünglich eingefügt in den Strom des Weltgeschehens, im Mitvollzug überindividueller Aufgaben lebt. Wenn wir aber auf Grund solchen Vergessens bisher nur nach einer Welt fragen konnten, der ein Mitvollzug des Lebens fremd ist, vielleicht müssen wir dann allmählich wieder lernen, nach einer Welt zu fragen, die dafür Raum hat und zu der auch wir als Mitvollziehende dazugehören. Das zu lernen, wird uns nicht leichtfallen [...]. Wir haben ja jahrhundertelang die Natur nur in Hinblick auf unsere Maßstäbe befragt, sie mit unseren Maßen gemessen und gewogen. Was herauskam, war eine Natur, mit der wir umgehen und die wir nach unseren Wünschen verändern können. Das ist eine Tat, die niemand verkleinern soll. Aber - wir sind über unserem Erfolg einer Verwechslung zum Opfer gefallen: Die Natur, mit der wir auf diese Weise umgehen, ist nicht die Natur selbst, ist nicht die Natur, der wir die Fähigkeiten für unsere Erfolge verdanken und die uns und den Bereich, den wir uns dienstbar machten, nach ihren Wünschen verändern kann. Diese Natur hat nicht unsere, sondern ihre Maßstäbe [...]. Sie steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern umgreift ihn [...]. Diese Natur wieder für sich selbst sprechen zu lassen und ihrem Gespräch zu lauschen, in dem die Stimme des Menschen nur eine Stimme ist - dies ist die Aufgabe, vor der wir stehen.“2

Das Naturverstehen des griechisch-jüdisch-christlich-kapitalistisch-patriarchalisch geprägten Abendlandes, inzwischen längst auch in Ostasien und in den afrikanischen Völkern angekommen, hat eben dieser so verstandenen Natur nicht zum Heil gereicht. Das Abendländische stellt sich mit den tödlichen Verwundungen der Natur und den aggressiv genutzten Entdeckungen ein furchterregendes Zeugnis an Kulturarmut aus.

Kultur (cultura):
Bearbeitung, Bebauung;
Pflege, Bewahrung, Veredlung, Verfeinerung, Ausbildung;
Verehrung, Heiligung.

„Der Indianer lebte in Übereinstimmung mit seinem Land, und aus der Erkenntnis, dass es mehr als ein bloßes Ausbeutungsobjekt ist, hütete er sich davor, es zu zerstören, denn es erhält alles Leben, und ohne andere Formen pflanzlichen und tierischen Lebens kann der Mensch selbst nicht überleben. Die Leute pflegten angesichts des indianischen Respekts vor kleineren Lebewesen zu lachen; die Indianer nannten sie nämlich ihre kleinen Brüder. Die Prärie-Indianer söhnten sich mit den Büffeln aus, wenn sie welche von ihnen zu ihrer Lebenshaltung getötet hatten, denn sie wussten, dass sich ohne den gegenseitigen Respekt aller Lebensformen untereinander keine Gesellschaft unbegrenzt lange aufrecht erhalten kann.“3
Auszug aus der Rede von Häuptling Seattle, 1856:„Der große Häuptling in Washington sendet Nachricht, dass er unser Land zu kaufen wünscht. Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen - oder die Wärme der Erde? Diese Vorstellung ist uns fremd. Wenn wir die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht besitzen - wie könnt Ihr sie kaufen? [...] Unsere Art ist anders als die Eure. [...] Der weiße Mann scheint die Luft, die er atmet, nicht zu bemerken. Wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank. - Das Ansinnen, unser Land zu kaufen, werden wir bedenken, und wenn wir uns entschließen anzunehmen, so nur unter einer Bedingung: Der weiße Mann muss die Tiere des Landes behandeln wie seine Brüder.
[...] Lehrt Eure Kinder, was wir unsere Kinder lehrten: Die Erde ist unsere Mutter. Was die Erde befällt, befällt auch die Söhne der Erde. [...] Die Erde gehört nicht den Menschen, der Mensch gehört der Erde.“
Der „weiße Mann“ sieht die Welt als Maschine, „an der nur ihr Funktionieren interessiert, nicht sie selbst.“4

Verletzt sich die Weinbergschnecke,
wenn man sie über eine scharfe Rasierklingenschneide kriechen lässt?

Fachwissenschaftliche Attitüde und pädagogische Zielsetzungen müssen im Lehrerhirn manchen Strauß miteinander fechten. Was soll da Priorität haben? Wir leben in einem wissenschaftlich geprägten Zeitalter, und Unterricht soll wissenschaftsorientiert sein. Das ist ausgemachte sachunterrichtspädagogische Norm. Außerdem verletzt sich die Weinbergschnecke ja gar nicht, wenn man sie über eine noch so scharfe Rasierklingenschneide kriechen lässt; man kann sogar Druck auf ihr Haus ausüben, und es passiert nichts Schlimmes. Das weiß die sachkundige Lehrerin; und sie will, dass auch ihre Schüler darüber erstaunt und erfreut sind. Aber den Kindern den Sachverhalt nur mitteilen - das widerspräche dem erfahrungsorientierten Ansatz ihres Sachunterrichts. Also wird der Tierversuch arrangiert und gestartet. Unsere Lehrerin fragt nicht „Was meint ihr, wird die Schnecke das überleben?“, sondern sie informiert die Kinder vorher, dass der Versuch ganz und gar ungefährlich für das Tier ist. Lehnen sich die Kinder deshalb beruhigt zurück und verfolgen das Experiment in aller Gelassenheit? Nein, sie bleiben trotz aller Vorab-Aufklärung in der Spannung, die in diesem Experiment per se angelegt ist. Der Kitzel des Risikos, das Schaurig-Schöne des Gefährlich-Sensationellen weht sie an. Einer drückt tatsächlich auf das Schneckenhaus, als die Lage am brenzligsten scheint - nichts passiert! Auch das Aufatmen wird ausgekostet: Unserer Schnecke ist nichts passiert! Sie bekommt zur Belohnung für ihre Mitwirkung und zur Entschädigung für das Bangen der Zuschauer ein besonders saftiges Salatblatt. Und dann will man wissen, wieso nichts passiert ist.

Eine Sternstunde des Sachunterrichts? Wir haben über die Schnecke wie über einen technischen Apparat verfügt, um zu klären, ob sie unter bestimmten Bedingungen in definierter Weise funktioniert oder nicht. Die Konsequenz dieses biotechnischen Unterrichts ist die Übertragung der Versuchsidee: Funktionieren Regenwurm und Raupe auch so wie die Weinbergschnecke? Wieviel halten Tiere aus? Wie lange kann man einen Hund am Halsband aufhängen, ohne dass er erstickt? Wieviel halten Menschen aus? Wie lange kann man einen isolierten Mitschüler schikanieren und erpressen, ohne dass man mit der Intervention von Erwachsenen rechnen muss?

„Wir stehen sauber gekleidet an schmutzigen Flüssen, picknicken üppig am Rande öder Agrarflächen, haben es warm und hell über dahinschwindenden Vorräten. Alles besitzen wir und fühlen uns nun unbehaglich, ängstlich, einsam mit uns selber und kaum mehr in der Welt daheim, kennen wir doch fast nur mehr Maschinentheorien über sie, nicht mehr sie selber. - Seit vielen Jahren bemühen sich die Schulen in Sachkunde, in Biologie, Physik oder Chemie, vorweg wissenschaftlich definierte Natur- und Weltmodelle immer kleineren Kindern als wenig bekömmliche, aber angeblich sehr nötige didaktische Diät vorzusetzen. Ohne die Natur überhaupt mit Auge und Ohr kennengelernt zu haben, bekommen Schüler die Waffen zu ihrer Beherrschung in die Hände gedrückt.“5

Kinder sollten nicht zu Kopffüßlern heranfunktionalisiert werden. Was treibt uns, schon die Kinder zu lehren, der Welt „mit Hilfe unserer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen“6?

„Gesetzt“, schreibt Nietzsche, „man schätzte den Wert einer Musik danach ab, wieviel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne - wie absurd wäre eine solche «wissenschaftliche» Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt!“ Ebenso könnte eine „«wissenschaftliche» Weltinterpretation, [...] die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, [...] eine der dümmsten, das heißt sinnärmsten aller möglichen Weltinterpretationen sein.“

Wir alle kennen die Musterlektion zum Thema „Magnetismus“ im Sachunterricht des 2. Schuljahres. Curriculare Fertigware tradiert sich hartnäckig überallhin und allezeit, wo und wann Lehrer sich nur bescheidenes didaktisches Nachdenken zumuten und ihren Schülern nur beschränkte geistige Aktivität zutrauen.

Der einschlägige CVK-Experimentierkasten steht bereit, aber die Lehrerin will die Kinder zunächst mit einem „motivierenden“ „Einstieg“ „einstimmen“. Die Klasse wird im Dreiviertelkreis um das kommerzielle „Angelspiel“ versammelt. Nacheinander halten die Kinder eine „Angel“ in ein „Aquarium“, darin macht es „klick“, und schwuppdiwupp kann man einen Pappfisch herausangeln. Wie ist das möglich? Und jetzt wissen auch die letzten, dass es heute um Magnete geht. Aber ihr Mitteilungsdrang („Ich habe zu Hause ganz viele Magnete / einen ganz großen Magneten“, „Wir haben in der Küche eine Magnet-Pinnwand“, „Ich habe mal einen alten Lautsprecher auseinandergebaut; da blieb mein Schraubenzieher dran kleben; da steckte noch Strom drin“, „Ich habe in meiner Modell-Eisenbahn einen Kranwagen; da ist ein Seil mit einem Magneten dran; mit dem kann ich Schienen hochziehen und wegfahren“, ...) passt der Lehrerin nur insoweit, als ihr die Kinder damit zeigen, dass sie in den Sachbereich „Magnete“ „eingestimmt“ sind. Dem Mitgeteilten selbst verleiht sie keine didaktische Bedeutung, weder ad hoc noch später; denn sie hat vor, die Kinder mittels CVK-Kasten-Methodik zu einer von den Zufälligkeiten der Vorerfahrungen freien und von den Divergenzen der individuellen Handlungsinteressen und Lernmotive nicht belasteten gemeinsamen Wissensgrundlage zu führen.
Zunächst kann sie an der Tafel festhalten (und sie meint, dies aus Gründen der Methodenorientierung des Sachunterrichts tun zu sollen): Wir wissen: Magnete können Sachen anziehen. Die Partnerschaften, in die die Klasse eingeteilt ist, erhalten die inhaltsgleichen Materialbeutelchen mit Büroklammern, Nägeln, Korken, Baumwollfäden, Glaskugeln usw., aber noch keine Magnete. Zunächst müssen die Kinder sagen, was jetzt die Frage sein könnte (Wir fragen: Welche Sachen zieht ein Magnet an?), und vermuten (Wir vermuten), welche Gegenstände, deren Namen in eine vorbereitete Tabelle an der Tafel eingetragen sind, von einem Magneten angezogen werden und welche nicht. Jetzt werden die Magnete endlich ausgeteilt, nachdem die Lehrerin die Kinder angewiesen hat, in der Tabelle auf dem mitgelieferten Arbeitsblatt mit Kreuzen festzuhalten, ob sie im Versuch eine Wirkung bzw. Nichtwirkung des Magneten auf die einzelnen Gegenstände beobachten. Den Beginn dieser Arbeit muss die Lehrerin aber wiederholt anmahnen (einmal sogar unter Androhung, vier Kindern die beiden Magnete wieder abzunehmen), weil es die Kinder viel spannender finden, die unterschiedliche Wechselwirkung zwischen zwei Magneten (auch durch Hindernisse hindurch!) zu erforschen, Spitzer in geheimnisvolle Bewegung zu versetzen und in einen Wettstreit zu treten, wer an seinem Magneten die längste Reißzweckenkette baumeln lassen kann. Diese Phänomene waren der Lehrerin zu komplex, als dass sie ihnen jetzt schon, in der ersten Stunde der Unterrichtsreihe, nachgehen lassen wollte („Vom Einfachen zum Komplexen!“, „Vom Leichten zum Schwierigen!“, behutsame Einführung in die Sachlogik mit Hilfe des bombensicheren elementenhaft-synthetischen Verfahrens). So führen denn die Kinder ihre Versuchsreihe durch und setzen Kreuzchen in die Arbeitsblatt-Tabelle. Anschließend werden die „Arbeitsergebnisse“ veröffentlicht (Wir haben festgestellt) und mit den Vermutungen (siehe die Tabelle an der Tafel) verglichen. Die Kinder, die vorhin ja schon erfahren haben, dass ihr wirkliches Handlungsinteresse und ihre tatsächlichen Fragen diesem Unterricht nicht angemessen sind, sind als brave Schüler bis auf die in diesem Unterrichtskorsett möglichen und geforderten Minimalbewegungen erstarrt, so dass die Lehrerin ohne weitere Schwierigkeiten zu dem geplanten Unterrichtsergebnis kommen kann:
„Magnete ziehen Gegenstände aus Eisen an“, das die Kinder noch rechtzeitig vor Stundenschluss von der Tafel ins Heft übernehmen können.
Hausaufgabe: Im CVK-Arbeitsbuch die Seite über Magnete so gut anschauen, dass man beim nächsten Mal gut über sie (die Seite? die Magnete?) Bescheid weiß.

„Wir bemächtigen uns dieser physischen Welt durch das Studium ihrer Gesetze. Diese Gesetze können nur gefunden werden, indem der Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur, der Zusammenhang, in dem wir, sofern wir selber Natur sind, mit ihm stehen, das lebendige Gefühl, in dem wir sie genießen, immer mehr zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den Relationen von Raum, Zeit, Masse, Bewegung. Alle diese Momente wirken dahin zusammen, dass der Mensch sich selbst ausschaltet, um aus seinen Eindrücken diesen großen Gegenstand Natur als eine Ordnung nach Gesetzen zu konstruieren. Sie wird dann dem Menschen zum Zentrum der Wirklichkeit.“ (W. Dilthey7) „Die Intersubjektivität des Bezugssystems, innerhalb dessen wir die Natur als eine nach Gesetzen zu bemächtigende objektivieren, wird durch Neutralisierung der breit gefächerten, biographisch bestimmten und historisch geprägten Sensibilität , durch Ausschaltung des ganzen Spektrums vorwissenschaftlicher Umgangserfahrungen erkauft, aber nicht durch eine Distanzierung des erkennenden Subjekts überhaupt. Die vergegenständlichte Natur ist vielmehr Korrelat eines Ich, das instrumental handelnd in die Wirklichkeit eingreift. Die Auffassungsweise, in der sich nach den Kategorien von Zahl, Raum, Zeit und Masse die 'standhaltenden' Gegenstände erst konstituieren, entspricht einer aktiven Festlegung durch Messoperationen: 'Das Standhalten der äußeren Objekte, der Eingriff der Hand in sie und ihre Messbarkeit ermöglichen dem Naturforscher das Experiment und die Anwendung der Mathematik. Daher können die in Beobachtung und Experiment aufgefundenen gleichförmigen Bestandteile der Erfahrungen hier den mathematisch-mechanischen Konstruktionsmitteln eingeordnet werden.' [W. Dilthey8]
Demgegenüber ist die Stellung des Subjekts in den Geisteswissenschaften durch eine nicht restringierte Erfahrung ausgezeichnet: seine Erfahrung ist nicht durch die experimentellen Bedingungen systematischer Beobachtung auf den Bereich eingeschränkt, der sich dem 'Eingriff der Hand' erschließt. Dem erlebenden Subjekt ist der Zugang zur Wirklichkeit freigegeben; der Resonanzboden aller vorwissenschaftlich akkumulierten Erfahrungen schwingt mit. Dem größeren Anteil an rezeptiven Schichten des in ganzer Breite der Erfahrung ausgesetzten Subjekts entspricht ein geringerer Grad der Objektivierung überhaupt: dem Erleben scheint sich die Realität gleichsam von innen zu öffnen.“ (J. Habermas9)

„Während Erkenntnis dort [in der klassischen Physik] in Theorien oder einzelnen Gesetzesaussagen terminiert, die an der Erfahrung kontrolliert worden sind, dienen hier [in den Geisteswissenschaften] Theorien und Beschreibungen nur als Vehikel der Hervorbringung eines nachvollziehenden Erlebnisses: '[...] Denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse [ein].' [Dilthey10] Während die naturwissenschaftliche Verfahrensweise durch 'Konstruktion', eben durch den hypothetischen Entwurf von Theorien und eine nachträgliche experimentelle Überprüfung gekennzeichnet ist, zielen die Geisteswissenschaften auf eine Transposition', eine Rückübertragung der geistigen Objektivationen ins nachvollziehende Erleben. 'Die Naturwissenschaften ordnen [die Erscheinungen] ihren Konstruktionsmitteln unter, indem sie durch Abstraktion die Gleichartigkeit der einzuordnenden Erscheinungen mit diesen Konstruktionsmitteln herbeiführen. Die Geisteswissenschaften dagegen ordnen ein, indem sie zu allererst und hauptsächlich die sich unermesslich ausbreitende geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie nur in ihrem äußeren Erscheinen oder in Wirkungen oder als bloßes Produkt, als objektivierter Niederschlag von Leben uns gegeben ist, zurückübersetzen in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist. Dort also Abstraktion, hier umgekehrt Zurückübersetzen in die volle ganze Lebendigkeit durch eine Art von Transposition.' [Dilthey11]“ (J. Habermas12)

Wenn ich sehe, wie sich Kinder mit Leib und Seele zur Natur verhalten, wie ihre Natur mit der Natur zusammenklingt, wie die Phantasie des kindlichen Spiels die spielerische Fülle der Natur aufgreift, wie Kinder mit den Naturdingen, die es zu entdecken gilt, konspirieren, wenn sie sie beobachten, sammeln, in Besitz nehmen, ins Herz schließen, beschreiben, erklären, verändern und pflegen, alles, um sie sich zu erhalten: dann denke ich, dass ich als ihr Lehrer ihnen diese Einstellung, die dem Verstehen vorausgehend eine Richtung gibt, bewahren muss, und will von ihnen lernen.

„Hütet euch wohl“, gibt Nietzsche den Pädagogen zu bedenken, „das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältnis“ des jungen Menschen „zur Natur zu stören“. Die „beschaulichen Instinkte der Kindheit“ seien „nicht etwa eine poetische Phantasmagorie, sondern das instinktive wahre und einzige Verhältnis zur Natur“, dem „kluges Berechnen und Überlisten der Natur“ als eine allerdings die Lebensnot wendende Betrachtungsart entgegengesetzt sei.13

Wie nun diese einander entgegengesetzten Betrachtungsweisen ohne Bruch aufeinander bezogen werden können, muss sich im 20. Jahrhundert mindestens ebenso problematisch darstellen, wie es Nietzsche erschien. Möglicherweise muss in der Sachbegegnung - bei allem Ent-decken und Ent-zaubern - auch Bewahrung und Verzauberung liegen, damit sie nicht in ein entsinnlichtes Knowing that und ein entsittlichtes Knowing how mündet. Oder anders: Möglicherweise darf in der Sachbegegnung kein Rausch der Herrschaft über die Sache liegen.

Die Gründlichkeit des Kindes, die Art, wie es den Sachen auf den Grund geht, ohne den eigenen Grund unter den Füßen zu verlieren, sollten wir unterstützen; wissenschaftliche Gründlichkeit, die von ihm später möglicherweise zu fordern ist, hätte dann Sachlichkeit in einem wohlverstandenen Sinne zur Grundlage: Sachlichkeit nicht objektivistisch begriffen, sondern als „Konspirieren“ mit der Sache, als „Mitvollzug der ihr selbst eigenen sinnhaften Struktur“ (H.-E. Hengstenberg14), so dass es Sinn hat, wenn man sagt, Sachlichkeit finde in der Liebe zum Mitmenschen ihre höchste Verwirklichung.

„Vor einem Reisighaufen an der Isar stehend, aus dem ein Zaunkönig sein Lied schmettert, leuchtet es dem heutigen Spaziergänger eher ein zu erfahren, hier verteidige ein gefiederter Flugwarmblüter sein Revier, als zu hören: Das ist ein Zaunkönig; er singt, er ist unverkennbar.“
Aber: „Diese zweite Auskunft klingt nicht nur hübscher, sie ist auch wahrer als die erste: Es ist Herbst, die Keimdrüsen der Vögel ruhen, Reviere spielen jetzt keine große Rolle, ohnedies geht das Lied weit über seine Teilfunktion als Revierabgrenzung hinaus. Hier tritt ein Stück Welt vor uns in Erscheinung. In seinem Erkennen und Benennen werden wir darin heimisch, der Zaunkönig am Münchener Isarufer singt uns nachbarlich herzu. -
Verschwände der Sonnentau aus unserer Welt, wäre das, was seinen Nutzen angeht, wenig Aufhebens wert. Weder fängt er so viele Insekten, dass er irgend eine Art im Zaume hielte, noch schmeckt er einem Pflanzenfresser. Festzustellen, er habe bezaubernd ausgesehen und absonderlich gelebt, käme seinem Wesen weitaus am nächsten.“15
„Sachlichkeit als Konspirieren mit Seiendem“ (Hengstenberg) ist nicht nur auf den Intellekt angewiesen, sondern auch auf das „Vertrauen zur wirkenden Welt“ (M. Buber). Wie aber steht es für unsere Kinder um die Vertrauenswürdigkeit der Welt, wenn sie (erstmalig im Jahre 1986) nicht in den Mairegen hinauslaufen dürfen, wenn Beeren und Pilze auf Klassenwanderungen als vergiftet und verstrahlt tabuisiert werden müssen, wenn uns an jedem sonnigen Tag stundenlange Tieffliegerangriffe auf unsere Schule Angst machen, wenn man schließlich alle seine Sinne hüten muss, um unbeschädigt zu überleben, wenn somit die Ästhetik der Welt zum Teufel geht?

„Und sie bewegt sich doch“ - sehr gut, sehr mutig! Aber dieses galileische Beharren auf astronomische Einsichten über die Erde ist nur halb so bedeutsam wie die Frage, wie lange noch und in welchem Zustand sich Menschheit auf ihr bewegen wird.

„Der Blick des Forschers [muss] sich nach innen wenden:denn die intellektuellen und ethischen Phänomene sind wichtiger als die physischen.“ (Schopenhauer16)

Aber:
„Dieser so sehr von Untergangsstimmung geprägten Generation müssen die Augen aufgehen für immer noch möglichen, ja vielleicht nach so viel Abenddämmerung gerade wieder wahrscheinlichen Weltaufgang: Horch, wie der Zaunkönig noch singt! Schau, wie der Sonnentau noch blüht! Im Abschiedslicht dieser Epoche leuchten sie geradezu auf vor unseren Augen, wir sehen vielleicht wieder mehr als die Väter. Allerdings sind wir auf einmal verantwortlich geworden für diese Mitgeschöpfe. Das ist das Neue, mit keiner früheren Zeit Vergleichbare.“17
Und:
„Der gute Wille ist nur der Anfang. Die Natur ist alles andere als harmlos: Im ungebeizten Saatgut etwa lauert das Mutterkorn mit einem Gift ohnegleichen. Für Träumer ist das nichts, naive Experimente können tödlich enden. Die Umwelt kann nur retten helfen, wer als Naturkundiger, als Realist, nicht als Schwärmer in ihr wieder die Welt zu erleben gelernt hat, die schön, gefährlich, grausam ist in ihren Erscheinungen.“18

Anmerkungen:

1: Der Mensch und die Natur, Bern 1953.

2: A. a. O., S. 8 f.

3:. Deloria: Nur Stämme werden überleben. München, 1978.

4: Aus dem Manuskript zur Sendung „Plädoyer für den Zaunkönig“, Sendereihe „Gedanken zur Zeit“,
Westdeutscher Rundfunk, 15.1.1983.

5: Ebd.

6: Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 373.

7: Gesammelte Schriften, Bd. VII, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 82 f. (Zitiert nach Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 181.)

8: Gesammelte Schriften, Bd., Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, S. 264.

9: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S. 181 f.

10: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. VII, S. 118.

11: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd., S. 265.

12: Erkenntnis und Interesse. S. 183 f.

13: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, 4. Vortrag.

14: H.-E. Hengstenberg:Philosophische Anthropologie. Stuttgart 1957. S. 12.

15: Aus dem Manuskript zur Sendung „Plädoyer für den Zaunkönig“, Sendereihe „Gedanken zur Zeit“, Westdeutscher Rundfunk, 15.1.1983.

16: Über das metaphysische Bedürfnis des Menschen.

17: Aus dem Manuskript zur Sendung „Plädoyer für den Zaunkönig“, Sendereihe „Gedanken zur Zeit“, Westdeutscher Rundfunk, 15.1.1983.

18: Ebd.

Literaturhinweise

Aebli, Hans: Denken: Das Ordnen des Tuns. Band I: Kognitive Aspekte der Handlungstheorie. Klett-Cotta, Stuttgart. 1980, 1. Auflage.

Evangelische Akademie Hofgeismar (Hg.): Naturverstehen bei Kindern und Jugendlichen. Evangelische Akademie Hofgeismar, Hofgeismar. 1988, 1. Auflage.

Faust-Siehl, Gabriele: Mit Kindern Naturphänomene verstehen. Sachwissen, Kindervorstellungen und Unterrichtsbeobachtungen zum Thema »Schatten«. In: Die Grundschulzeitschrift, 7. Jg., 67/93, September 1993. S. 8-16. Friedrich, Seelze.

Garlichs, Ariane: Naturverstehen von Kindern und Jugendlichen. Was fängt die Schule damit an? In: Evangelische Akademie Hofgeismar (Hg.): Naturverstehen bei Kindern und Jugendlichen. S. 83-91. Evangelische Akademie Hofgeismar, Hofgeismar. 1988, 1. Auflage.

Gropengießer, Ilka / Otto, Gunter / Tillmann, Klaus-Jürgen (Hg.): Schule. Zwischen Routine und Reform. Friedrich, Seelze. 1994, 1. Auflage.

Herzog, Walter: Motivation und naturwissenschaftliche Bildung. In: Neue Sammlung, 36. Jg., 1/96, Januar/Februar/März 1996. S. 61-92. Friedrich, Seelze.
Inhalt: Herzog entwickelt die These, dass eine geringe Beliebtheit von Naturwissenschaften bei Mädchen nicht kognitiv, sondern motivational bedingt ist. Ursächlich sei die Diskriminierung von Mädchen im naturwissenschaftlichen Unterricht. Das Curriculum ist jungenzentriert ausgerichtet. Dazu gehört nicht allein die Fremdheit der naturwissenschaftlichen Fachsprache; vor allem finden im Unterricht eine für Mädchen typische kontextintegrierende Denkweise und entsprechende Vorstellungen von physikalischen Phänomenen keine Berücksichtigung.

Hiller, Gotthilf Gerhard: Alltägliche Modellvorstellungen und didaktische Rekonstruktionen. In: Halbfas, Hubertus / Maurer, Friedmann / Popp, Walter (Hg.): In Modellen denken. S. 144-170. Klett, Stuttgart. 1976, 1. Auflage.

Historisch-genetischer Unterricht. In: päd extra, 20. Jg., 4/92, April 1992. Beck, Frankfurt am Main.
Inhalt: Verstehen statt Pauken - fächerübergreifender Unterricht als Chance; Argumente für einen historisch-genetischen Unterricht in den Naturwissenschaften. Die historisch bedingte mentale Verfasstheit und die Frage nach dem »Warum«; über die Funktion des Experiments im historisch-genetischen Unterricht. Ereignisgeschichte als Ansatz, um neuere wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen.

Mayer, Werner G.: Der Sachunterricht. Teil 2: Unterricht und Erziehung. Praktische Anleitungen und Begründungen für einen erziehenden Sachunterricht. Dieck, Heinsberg. 1993, 1. Auflage.
Inhalt: Die Planung des Sachunterrichts im Schulprogramm, im Wochenarbeitsplan und in der Stundenvorbereitung. Vom Schulprogramm zur Stundenskizze. Der Sachunterricht als schülerzentrierter Unterricht. Sachen, die man verstehen kann - die Medien. Informationsbeschaffung und Informationsspeicherung. Wie zensiert man Kinder im Sachunterricht? Zeugnisse ohne Noten: Erziehung zur Leistung im Sachunterricht: der anstrengungsorientierte Leistungsbegriff - die Leistungsbeurteilung. Zu den Unterrichts- und Erziehungszielen des Sachunterrichts. Mehrperspektivischer Projektunterricht - mehrperspektivisches Projektstudium? Das Didaktische Zentrum für die Primarstufe.

Pflanzen und Tiere - Leben verantworten. In: Die Grundschulzeitschrift, 8. Jg., 77/94, September 1994. Friedrich, Seelze.
Inhalt: Bewusste Begegnung mit dem Weihnachtsstern. Ententagebuch. Mit Äpfeln umgehen - Anregungen zum Umgang mit allen Sinnen. Was bedeutet im Alltag »Leben verantworten«? Erdkröten-Paarung. Ein Besuch bei Giraffe und Okapi - Durch nachahmendes Spiel Tiere verstehen lernen. Zur Winterfütterung von Vögeln. Ein Stück Wiese:»Viel zu schön, um darauf zu gehen«. Tiere auf der Wiese. Kompost. Efeu - Dem Wald in der Stadt begegnen.

Scholz, Gerold: Offen, aber nicht beliebig. Materialien für den Sachunterricht. In: Die Grundschulzeitschrift, 9. Jg., 88/95, Oktober 1995. S. 6-14. Friedrich, Seelze.
Inhalt: Scholz geht davon aus, dass Materialien im Sachunterricht in bestimmten Zusammenhängen notwendig sind bzw. eine Unterstützung darstellen können für die unmittelbare Auseinandersetzung mit Sachzusammenhängen. Ausgehend von der Kritik einiger Materialien und ihrer Nutzung in schulischen Zusammenhängen werden vier didaktische Thesen aufgestellt:
1. Materialien zum Sachunterricht sollen Sachverhalte in den Mittelpunkt stellen und nicht sich selbst.
2. Sie sollen sich mit Sachverhalten beschäftigen und nicht mit fachwissenschaftlichen Begriffen.
3. Sie sollen sich mit Sachverhalten beschäftigen, an denen etwas zu verstehen ist.
4. Sie sollen zum Verstehen der eigenen kindspezifischen Deutungsmuster beitragen.

Spreckelsen, Kay (Hg.): Schülervorstellungen im Sachunterricht der Grundschule. Gesamthochschule Kassel, Kassel. 1985, 1. Auflage.
Inhalt: Kinder auf dem Weg zu den Fächern. Zum Naturbezug des Philosophierens mit Kindern. Wie Kinder Naturgeheimnisse definieren und zu ergründen versuchen. Kinderaussagen zwischen Informationen aus »zweiter Hand« und »eigenständigem Denken«. Vorstellungen über Schwimmen und Sinken bei Erstklässlern. Pädagogische Diagnose des Entwicklungsstandes sachunterrichtlicher Interessen, Kenntnisse und Denkweisen. Lernprozesse im Umgang mit dem einfachen elektrischen Stromkreis. Zur Bedeutung des entwerfenden Zeichnens im Sachunterricht der Grundschule. Zum Einfluss des Computers auf die Wirklichkeitsvorstellungen von Kindern. Weg in die Naturwissenschaft - auf bruchlosem Weg?

Spreckelsen, Kay: Erleben und Verstehen im Sachunterricht. In: Grundschulunterricht, 43. Jg., 4/96, April 1996. S. 6 f. Pädagogischer Zeitschriftenverlag, Berlin.

Thiel, Siegfried: Zum Problem der Vereinfachung und der Modellvorstellung bei Martin Wagenschein. In: Halbfas, Hubertus / Maurer, Friedmann / Popp, Walter (Hg.): In Modellen denken. S. 22-31. Klett, Stuttgart. 1976, 1. Auflage.

Wagenschein, Martin: Naturphänomene sehen und verstehen. Genetische Lehrgänge. Klett, Stuttgart. 1980, 1. Auflage.
Inhalt: Genetische Bildung in der Erfahrung des Lehrers Wagenschein. Die Kunst des genetischen Lehrens - Konzepte und Exempel:Naturtreu und sinnfällig lehren; muttersprachlich lehren; gründlich lehren; doppelt gründlich und also wissenschaftlich und auch philosophisch lehren; sokratisch lehren; exemplarisch lehren; genetisch lehren. Physikalische Fachsystematik als Ertrag genetischen Lehrens. Licht, Magnet, Fallgesetz, Primzahlen, Quadratwurzel, Pythagoras, Himmelskunde.

Wagenschein, Martin: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken. Band II. Klett, Stuttgart. 1970, 1. Auflage.


© Gerhart Dieter Greiß
Ausbildungsleiter am Studienseminar für die Lehrämter in 34497 Korbach
Lehrer an der Mittelpunktschule Willingen