Rudolf Schmidt: 

Sachlichkeit und Sachunterricht 
in der Grundschule 

(Rudolf Schmidt: Sachlichkeit und Sachunterricht in der Grundschule. Bad Heilbrunn 1970.) 

Sachlichkeit als anthropologisch-pädagogische Begründung des heutigen Sachunterrichts

»Dem sachlichen Menschen geht es darum, die Sache in ihrem Wesen zu erkennen und anzuerkennen, ihr das eigene Sein zu lassen oder in aktiver Hinwendung zu gewähren. Sachlichkeit lässt den Menschen in Kommunikation mit Seiendem kommen und diesem in Selbstlosigkeit, ohne Rücksicht auf eigenen Nutzen, entsprechen. Sachliche Einstellung ermöglicht „Konspirieren“ (H.-E. Hengstenberg) mit Seiendem, „Mitvollzug seiner ihm selbst eigenen sinnhaften Struktur“. 
Die zu solcher Sachlichkeit gehörende Selbstlosigkeit ist nicht gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Die Wahrung des eigenen „Selbst“ gegenüber anderen steht nicht im Widerspruch zur Sachlichkeit. Das „Selbst“ konstituiert sich in der Zugehörigkeit zu dem Seienden, dessen Anspruch es vernimmt und durch Entsprechung befolgt. [...]
In dieser Interpretation wird die Sache nicht als Objekt, die Sachlichkeit nicht als Objektivität verstanden. Die Objektivität entbehrt des persönlichen Engagiertseins und betrachtet die Sache als verfügbaren Gegenstand. Die Neutralität des inneren Unbeteiligtseins macht die Sache zum Ding, zum Neutrum, wie auch das Objektiv des Photoapparats nur neutral registriert. So gewiss das Leben in vielen Bereichen der Objektivität bedarf [...], so sicher ist es, dass Objektivität allein weder Sachen noch Mitmenschen in ihrem Sein gerecht werden kann. [...]« (S.38 f.)

»Unvereinbar mit Sachlichkeit ist Utilität dann, wenn Mitmenschen ihrem Zugriff ausgeliefert werden. [...]« 

Unsachlichkeit »negiert das „Konspirieren mit dem Gegenstand“ und verschließt sich sachlicher Einsicht und der Wahrheit. Deshalb verfehlt sie in ihren Auswirkungen den Sinn des Seienden.«

Bei der »Sachlichkeit als Konspirieren mit Seiendem« »handelt es sich um Einsicht, die nicht auf den Intellekt allein angewiesen ist. In der selbstlosen Hingabe an Dinge, Wesen und Mitmenschen, im Vernehmen des von ihnen ergehenden Anspruchs und in der Entsprechung ist immer, wenn auch in den verschiedensten Modifikationen, Liebe und „Vertrauen zur wirkenden Welt“ (M. Buber) mitenthalten. „Das Vertrauen zur wirkenden Welt“, d.h. der wesenden und waltenden, lässt mich in ihr dessen innewerden, was an mir zu tun ist. Nur von dem, welchem ich vertraue, lasse ich mir etwas sagen. Misstrauen scheidet von jenem in das menschliche Sein und menschliches Entsprechen hervorrufenden An-Spruch. Erst das Vertrauen (wie auch die Liebe) lässt mich in das „Zwischen“ (Buber), in die „Intersubjektivität“ (Marcel) eintreten; hier nur kommt es zum „Dialog“. Vertrauen, das hören lässt, 
ist die für das Menschsein konstitutive „Stimmung zur Welt“ (Kl. Schaller).« (S. 40) 

In der Liebe zum Mitmenschen »findet die Sachlichkeit ihre höchste Verwirklichung«. (S. 41) 

Sachlichkeit und Entwicklungsgemäßheit 

»Entwicklungs- oder kindgemäße Erziehung bedeutet „Geleit von Wille und Selbst zu Besonnenheit und Wahrheit“ (Ballauff). Dieses Geleit sichert dem jungen Menschen den unumgänglichen Weg über verschiedene Entwicklungsstufen mit jeweils eigenem Sinn und eigenen Merkmalen. Die Wegweisung lässt dem Heranwachsenden sein eigenes Sein, das in den Grenzen der ihn, d.h. seiner Individualität gewährten Möglichkeiten auf jeder Stufe Erfüllung finden muss, wenn die Entwicklung „organisch“, nämlich ohne Störung und Hemmung verlaufen soll. [...]

Entwicklungsgemäße Erziehung kann nicht zulassen, dass das Kind wie ein Erwachsener en miniature behandelt wird, indem man die zu durchmessenden Bereiche seines Lernens lediglich quantitativ so reduziert, dass sie dem kindlichen Lernvermögen angepasst scheinen. Ein derartiges Lernen fordern zu wollen, hieße das Kind nötigen, sich mit Fragen auseinandersetzen zu müssen, die noch nicht in seinem geistigen Horizont liegen. Damit würde es unter die Diktatur der Sache gestellt, aber nicht zu ihrer Wesensschau und einsichtigen Entsprechung geführt. [...]

In jeder Entwicklungsphase muss der Heranwachsende von solchem Seienden angesprochen werden, das sich nach Sinngehalt und Struktur im Umkreis seines Denkens befindet. [...] Kindgemäßheit bemüht sich um das kindliche Interesse als Ermöglichung der Inanspruchnahme. 

Auch in der Zeit des Schulanfangs sind Ich und Wille in den kindlichen Umweltbeziehungen noch dominierend. Doch wird das allmähliche Heraustreten der Sache aus subjektiver Verhüllung und die zunehmende Helle „naiv-realistischen“ Denkens bereits sichtbar. [...] Im Laufe der Grundschulzeit erfährt die Sachgerichtetheit des Kindes eine fortschreitende Differenzierung und Lösung von subjektiver Bindung. Die Erweiterung des Horizontes und die Gliederung der überschauten Bereiche bringen eine Intensivierung des Vergleichens, Urteilens und Ermessens mit sich und leiten gegen Ende dieser Zeitspanne zum „kritischen Realismus“ über. Das Seiende wird nun nicht mehr nur als das Einfache und naiv-fraglos Übernommene, sondern ebenfalls als das Fragwürdige und Infragestellende gedacht. [...]

Bei aller Erziehung sollte bedacht werden, dass die Entwicklung mit ihrem sich weitenden Spielraum sachlicher und mitmenschlicher Auseinandersetzung zugleich ein „Verwicklungsprozess“ (Ballauff) ist. Die Schwierigkeiten und Verwicklungen, in die sich der Heranwachsende in unserer stets komplizierter werdenden Welt gestellt sieht, gebieten, darüber zu wachen, dass das Ausmaß der von Stufe zu Stufe zunehmenden Verwicklungen das Maß der Lösungsmöglichkeiten nicht überschreitet. Verfrühte Aufgabenschwierigkeiten sind im Hinblick auf Erziehung und Bildung nicht nur wertlos, sondern auch entwicklungsgefährdend, sie vergeuden Zeit und Kraft und nötigen zu einer falschen Einstellung zu den Anforderungen, die aus sachlichen und mitmenschlichen Bereichen zu stellen sind.« (S. 48)

Die Entwicklung des Kindes in der Zeit der beiden ersten Schuljahre

S. 52-57. 

Die Entwicklung des Kindes im dritten und vierten Schuljahr

S. 57-61. 
   

»Alle Maßnahmen des Sachunterrichts laufen darauf hinaus, das Kind aus seiner Subjektivität unvermerkt in die sachliche Inanspruchnahme zu führen.« (S. 66) 

»Erziehung zur Sachlichkeit bescheidet sich nicht damit, nur zur gedanklichen Auseinandersetzung mit Sachen zu führen; denn in vielen Fällen kann Seiendem erst durch „Handeln“ entsprochen werden.« (S. 67)